Die kirchliche Tendenzen in Ex-Jugoslawien lassen sich nicht eindeutig einordnen. Erst nachdem im vergangenen Jahr die orthodoxe Kapelle in Osijek/Kroatien mit Spenden der katholischen "Caritas" und der pfingstlerischen "Agape" saniert worden war, flogen die Reste der großen Mutterkirche in Osijek-Süd, der "Kirche der Heiligen Gottesmutter", in die Luft. Der junge, in der serbisch-kontrollierten Krajina tätigen Bischof Lukijan setzte kürzlich in einem Interview die kroatische Herrschaft jener der Nazis gleich: "Die serbischen Orthodoxen leben in der Republik Kroatien wie in einem KZ."
Dem hält sein streitbare Zagreber Amtskollege, der pensionierte Erzpriester Jovan Nikolic, ein Erlebnis aus Slawonien entgegen: "Nachdem ich beim katholischen Priester übernachtet hatte, hielt ich in der [priesterlosen] Kirche von Grubisno Polje eine Messe ab. Der katholische Priester, Anton Corkovic, hatte sogar im Rundfunk verkünden lassen, daß ein orthodoxer Gottesdienst am nächsten Tag stattfinden würde. Corkovic verteilt ferner orthodoxe Kalender an die verbliebenen Orthodoxen."
Jenseits der Front entlang der Donau im malerischen Städtchen Ilok sieht es allerdings spannungsvoller aus: Dort fungiert Jerislav Slujka als Pfarrer einer slowakisch-sprechenden lutherischen Gemeinde, die noch 800 Seelen zählt. "Die Serben sehen uns als Kroaten an," erklärte eine slowakische Lutheranerin. "Schließlich verfügen wir über den gleichen `katholischen' Kalender." Die Katholiken von Ilok klagen darüber, daß sie unterwegs zur Messe in ihrer frisch beschädigten Kirche von Kindern mit Steinen beworfen werden. Nahezu sämtliche Nichtserben in diesem Landstrich sind erwerbslos: Die verbliebenen älteren Lutheraner sehen es als ihre Aufgabe an, die Immobilien zu wahren in der Hoffnung auf bessere Zeiten.
Nach dem Krieg von 1991 ist es mindestens einer evangelischen Familie gelungen, nach Vukovar zurückzukehren. Doch vor ihrer Ankunft wurde ihr beschädigtes Haus geplündert. Noch heute winken gelegentlich die eigenen Badetücher von der Wäscheleine des Nachbarn herrüber. "Nur die Nachbarn haben Schußwaffen," erklärte eine Bekannte. "Deshalb sehen wir uns außerstande, Forderungen zu stellen." Aus Sicherheitsgründen hat sich bisher weder der reformierte noch der lutherische Bischof in Serbien in die Krajina gewagt. Die wenigen dort tätigen Pastoren sind gezwungen, sich zwecks materieller und geistlicher Hilfe nach Serbien zu begeben.
In Bosnien waren die Protestanten schon immer äußerst dünn gesät. Dank der massiven Hilfslieferungen westlicher Kirchen kommen nun neue Beziehungen zustande. Mit finanzieller Hilfe der amerikanischen Südbaptisten besucht der Belgrader Ilija Skoric Familien im serbisch-beherrschten Teil Bosniens. Dabei besucht er Flüchtlinge, die in Belgrad mit dem Hilfswerk "Chleb Zivota" (Brot des Lebens) in Berührung gekommen waren und danach nach Hause zurückgekehrt sind. "Die Menschen sind für das Evangelium sehr offen," versicherte Skoric. "Vor dem Krieg war das anders." Bei einer Rundreise durch Bosnien im Januar hat Skoric 1.000 Bibeln verteilt, viele von denen an Soldaten vor Straßensperren.
Die Verquickung von Nahrungshilfe und Evangelisation führt zu dem Vorwurf, daß sich Evangelikale "Anhänger erkaufen". Laut Andrej Beredi in Novi Sad, Bischof der slowakischen lutherischen Kirche, "gebrauchen Pfingstgemeinden Hilfspakete als Lockmittel. Sie erkaufen sich Seelen." Beredi weiß sehr wohl, daß evangelistische Erfolge größten Argwohn seitens der Orthodoxie wecken. Im vergangenen Sommer haben in Novi Sad die evangelistischen Bemühungen von Pfingstlern und Baptisten zu Gegenpropaganda und Rempeleien mit orthodoxen Theologiestudenten geführt.
Da kommt den Lutheranern die dienstlich bedingte Zusammenarbeit mit Orthodoxen im neuen "Ökumenischen Hilfswerk" gelegen. Die Suppenküche in Novi Sad wird von Reformierten und Lutheranern, die Belgrader "Schwesterküche" von Orthodoxen betrieben. Ansonsten verschlechtern sich die Beziehungen zur Orthodoxie zusehends: An den populär gewordenen wöchentlichen Friedensgebeten von Novi Sad beteiligen sich die Orthodoxen nicht.
Seitens der Muslime sind ähnliche Distanzierungstendenzen festzustellen: In Sarajevo ist die Radikalisierung der muslimischen Mehrheit unverkennbar. Turbantragende Männer und bis aufs Gesicht verhüllte Frauen gehören inzwischen zum alltäglichen Straßenbild. "Das ist die heißeste neue Mode," meinte die Adventistin Nikolina Mustapic mit einem gequälten Grinsen. "Wir wollen eben nicht so aussehen wie unsere Feinde," versicherte die Muslimin Sadie Sukic. Immerhin scheinen sich die politischen Standpunkte der Freikirchen geringfügig anzunähern. Im vergangenen Jahr haben in Ungarn mindestens zwei Begegnungen von Serben und Kroaten stattgefunden, an denen auch die Evangelikalen beteiligt waren.
Der Belgrader Professor und Baptistenpastor Aleksander Birvis räumt die Vertretbarkeit von Sanktionen, die gegen die serbische Schwerindustrie gerichtet sind, ein. "Sanktionen mögen gutgemeint sein," versicherte er. "Aber sie müssen jene treffen, die für den Krieg verantwortlich sind. Es ist lächerlich, daß Sanktionen die Slowenen in Belgrad davon abhalten, Bibeln in ihrer eigenen Sprache zu erwerben." Peter Kuzmic, Präsident der "Evangelischen Theologischen Fakultät" in Osijek, stimmt dieser Auffassung zu: "Meine Bedenken bestehen gegenüber jenen [orthodoxen Geistlichen], die auf die Aufhebung sämtlicher Sanktionen bestehen."
Nichtsdestotrotz empfinden serbische Protestanten Aufrufe nach Sanktionen weiterhin als ein spirituelles Affront. Nach Slobodan Andjelic, Pastor der Pfingstgemeinde "Tempel der Heiligen Dreieinigkeit" in Belgrad, ist die Weigerung, humanitäre Hilfe nach Serbien zu entsenden, ähnlich dem Versuch, "Kroaten den Zugang zu einem Gottesdienst zu verweigern."
Serben neigen dazu, die Kriegsschuld gleichermaßen auf alle Kriegsparteien zu verteilen. Kroaten hingegen fordern stets eine eindeutige Verurteilung des serbischen "Aggressors". Andjelic beteuerte: "Niemals werden wir aus Protest auf die Straße ziehen. Das wäre politisch." In Serbien werden Forderungen westlicher Staatsbürger nach militärischer Intervention als blinde Konformität mit den politischen Absichten Kroatiens gewertet.
Serbische Protestanten stehen nicht ausschließlich negativ der Regierung Milosevic gegenüber: In ihm erkennen sie einen Damm gegen die Bildung eines klerikalen orthodoxen Staates. Die meisten Orthodoxen bejahen den ethnischen Standpunkt dieses Staates, verübeln ihm jedoch seine säkularistische Kirchenpolitik. Da liegen die Präferenzen der Protestanten genau umgekehrt.
William Yoder
Berlin, den 12. März 1994
Verfaßt für den „Evangelischen Pressedienst“ (EPD) in Frankfurt/M., 870 Wörter.