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Kirchliches Leben im umlagerten Sarajevo

Wer in Sarajevo einen protestantischen Gottesdienst aufsuchen will, tut es an Samstagen: Läßt man die Zeugen Jehovas beiseite, sind die Siebenten-Tags-Adventisten die einzige protestantische Kirche, die weiterhin Gottesdienste abhält.  Obwohl die Zahl der Adventisten von 100 auf 20 zusammenschrumpft ist, kommen bei ihnen noch 200 Gläubige zum Gottesdienst zusammen.  Sogar sie müssen ohne Pastor auskommen.  "Wie schade, daß sich kein Pastor hier aufhält," jammerte die Baptistin Jasmina Karamehmedovic.  "Menschen, die sich bisher niemals mit Gott befaßt haben, rufen heute nach ihm."

 

Junge Laie führen im Hauptquartier der Adventisten Regie.  Ihr Tun dringt auch bis zur Zentrale nach Belgrad durch.  Pastor Radomir Nikolic aus Sarajevo, der sich gegenwärtig in Belgrad aufhält, erzählte, daß er kürzlich im Sarajevo-Rundfunk eine geistliche Andacht der jungen Nikolina Mustapic gehört hätte.  Während Bombardements in den vergangenen Monaten soll Frau Mustapic im Gottesdienst die Versammelten gebeten habe, noch lauter zu singen, um den Kriegsdonner zu übertönen.

 

Nur eine Handvoll Pfingstler hält sich weiterhin in der Stadt auf.  Zwei ihrer jungen Männer sind im letzten Jahr an der Front gefallen.  Dragan Nedic, ein serbischer Pfingstler, dient weiterhin in der überwiegend muslimischen bosnischen Armee: "Unser Pastor hat uns vor 20 Monaten verlassen," klagte er.  "Warum bloß hat er sich niemals mit uns in Verbindung gesetzt?  Keine Mission bemüht sich, mit uns in Verbindung zu treten. Ich komme mir vor, als ob wir unsichtbar geworden wären.  Warum bemüht sich Billy Graham nicht, hierher zu kommen?  Wir sind unglaublich enttäuscht."

 

"Ich hätte nicht in den Krieg ziehen müssen wenn wir einen Verein gehabt hätten." führte er fort.  "Ich will nicht töten, aber wir haben keinen Fürsprecher hier.  Nur Gott weiß, was wir alles hätten erreichen können wenn wir als Gemeinde zusammengeblieben wären."

 

Ende 1993 verbrachte der adventistische Laienprediger Dario Slankamenac zwei Monate im Militärgefängnis, da er nur zum waffenlosen Wehrdienst bereit war.  Zum Glück gehört er dem renommiertesten kirchlichen Hilfswerk der Stadt, der adventistischen ADRA, an.  Ihr Ruf und ihre Verbindungen führten zu seiner abrupten Entlassung.

 

Der Franziskanerpater Professor Ljubo Lucic wies darauf hin, daß nur die Zeugen Jehovas älteren Datums aus Glaubensgründen von der Wehrpflicht befreit sind: "Nach Ansicht der Regierung hatten sich manche Muslime taufen lassen weil sie nicht zur Armee wollten.  Deshalb wurde eine rückwirkende Frist angesetzt."  Nur wer vor einem bestimmten Zeitpunkt am Anfang des Krieges bereits Zeuge war, konnte noch vom Wehrdienst befreit werden.

 

Die lutherische Präsenz in der Stadt bleibt auf Sparflamme: Zlatan und Samir Sofo, eine Vater-und-Sohn-Mannschaft, halten die kircheneigenen Immobilien instand und warten auf bessere Zeiten.  Keiner fühlt sich dazu fähig, die kleine Schar der Lutheraner zu sammeln.  Im September 1992 hatte eine Brandbombe die Dachwohnung von Samir Sofo zerstört und manche kirchlichen Dokumente vernichtet.  "Wollen wir hoffen, daß es in Zagreb noch Adressenlisten gibt," meinte Samir, ein Rechtsanwalt.  "Viele sind fortgezogen, doch wohin, wissen wir nicht."

 

Die imposante 1898 erbaute lutherische Kirche wurde nach dem II. Weltkrieg vom atheistischen Staat konfisziert; die Gemeinde ist mit einem unermeßlich bescheidenerem Gebäude entschädigt worden.  Beide Gebäude weisen heute nur unerhebliche Kriegsschäden auf.

 

So gut wie keine Familie bleibt vom Krieg unversehrt.  Am 4. April 1992 war die Ehefrau des Lutheraners Samir Sofo und deren Sohn zu einem Besuch bei ihren Eltern in Tesanj nahe Maglaj aufgebrochen.  Just in jener Nacht wurde Sarajevo durch serbische Truppen abgeriegelt; seitdem hat sich das Paar nicht wieder gesehen.  Nur per Funk kommen Kontakte zwischen beiden Enklaven hin und wieder zustande.

 

Nur mit größter Anstrengung kommt das orthodoxe Leben in Sarajevo voran.  Von sieben aktiven Priestern ist nur noch ein alternder Mönch, Avakum Rosic, geblieben.  Gemeinsam mit einem Pensionär, Krstan Bijeljac, hält er den kirchlichen Betrieb für 50.000 Serben aufrecht.

 

Mangels öffentlicher Verkehrsmittel bewältigt der 79-jährige Bijeljac täglich drei bis vier Kilometer zu Fuß.  Da er auch in der 10. Etage eines Hochhauses ohne betriebsfähigen Fahrstuhl wohnt, kommen noch einige vertikale Meter hinzu.  "Es sind die Pakete meiner Kinder und Enkel, die mich vorm Hungertod bewahrt haben," beteuerte er.  "Bisher habe ich nur 15 Kilo abgenommen."

 

Der charmante Priester versicherte, man könne auch ohne katholische Beihilfe das tägliche Pensum an orthodoxe Beerdigungen bewältigen.  Nach katholischen Angaben sind die verbliebenen Serben jedoch auf die orthodoxen Würdenträger sauer: Die Steuermänner gingen eben nicht als letzte von Bord.

 

Kontakte zum Vorgesetzten, Metropolit Nikolaj, jenseits der Front in Sokolac sind so gut wie nichtexistent.  Wahrscheinlich kommt das dem Priester Bjeljac nicht ungelegen: Nach Angaben des Franziskaners Lucic hatte sich Bjeljac zu Friedenszeiten einige Jahre beim Roten Kreuz verdingen müssen.  Als staatsnaher "Friedenspfarrer" war er seiner Kirchenleitung suspekt.

 

In Sarajevo ist der christliche Trubel im wesentlichen katholisch.  Zur Hauptmesse an Sonntagvormittagen versammeln sich mindestens 1.000 Gläubige im fast unbeschädigten Dom nur einige Meter vom berüchtigten Marktplatz entfernt.  Der Jugendchor tritt mit Saitenkapelle und evangelikal-charismatischen Jugendsongs auf.  Sie singen ferner vom unverbrüchlichen Geist der Einwohner Sarajevos.  Von Trägheit und Schwermut ist wenig zu spüren; die Stimmung erinnert an einen Festgottesdienst in Bayern.  "Heute macht es wieder Sinn, Priester zu sein," versicherte Lucic.

 

In Sarajevo sind die 30.000 Katholiken kulturell und politisch engagiert.  Am 6. Februar war die Kirche maßgeblich am Zustandekommen einer Volksversammlung (Sabor) der Kroaten, um ihr Eintreten für den einheitlichen bosnischen Staat Nachdruck zu verleihen, beteiligt.  "Sonst sind die Kriege endlos," versicherten katholische Gesprächspartner.  Die anhaltende Präsenz eines Erzbischofs bzw. dessen Stellvertreter trägt zur örtlichen Glaubwürdigkeit der römischen Kirche bei.

 

Wirklich düster sieht es für die Katholiken nur auf der serbischen Seite aus.  Im serbisch kontrollierten Gebiet um Sarajevo findet - im Gegensatz etwa zu Banja Luka - kein einziger katholischer Gottesdienst statt.  Das Priesterseminar in Flughafennähe ist verwüstet, die Professoren verschwunden.  Laut Pater Lucic sind die serbischen Priester innerhalb Sarajevos "weggelaufen", die kroatischen Priester auf serbischem Gebiet hingegen "weggejagt" worden.  Zweifellos werten die Serben auf der anderen Seite die kirchlichen Migrationen genau umgekehrt.

 

William Yoder

Berlin, den 9. März 1994

 

Verfaßt für den „Evangelischen Pressedienst“ in Frankfurt/M., 940 Wörter