Im Kubanischen Protestantismus fehlen nur die Eltern
Die kubanische Kirche von heute einnert an die DDR im Jahr der Wende. Die Kirche ist in Mode. Doch die Gaben des Heiligen Geistes, nicht die Menschenrechte, sind das Thema der Stunde. Die Gläubigen sind eben Charismatiker geworden. Viel eindeutiger als im Falle der DDR handelt es sich um ein geistliches Erwachen.
Bekanntlich sind schwere Zeiten für den Staat gute Zeiten für die Kirchen. In den letzten fünf Jahren hat sich die methodistische Kirche von 5.000 auf 30.000 Glieder gesteigert. Den Pfingstlern und Baptisten geht es noch besser; evangelische Hausgemeinden sprießen aus allen Spalten hervor. Die Jugend ist überall dabei; nur die Eltern fehlen.
Es kommen auch nicht alle Kirchen gleichermaßen mit. Das Schlußlicht stellen die Lutheraner: Auf drei gegnerische Denominationen verteilt, kommen sie kaum über 300 Mitglieder hinaus. Nur in Miami floriert das kubanische Luthertum.
Dem Staat geht es schlecht nicht zuletzt weil die Wirtschaft zerbröselt. Nach der Rede Castros am Nationalfeiertag Ende Juli war die Devisenwirtschaft auf einmal da. Ihr kommen drückte die Arbeitsmoral in den Keller. Wer will noch einer geregelten Arbeit nachgehen wenn der Monatserlös zwei bis drei Dollar ausmacht? Castros Kehrtwende drängt die Kirchen in ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber den Devisenländern: Keiner will das spärliche Westgeld im Spendenkorb verschwinden lassen. Doch womit sonst sollen sich die Kirchen das Lebensnotwendige beschaffen?
Devisen tragen zur Entstehung einer neuen Klassengesellschaft bei. Deshalb tun sich auch in Kuba die Kirchen als Anwalt der Schwachen in einer vermeintlich klassenlosen Gesellschaft hervor. Am 19. September ist in allen methodistischen Gemeinden ein dramatischer, kritischer Pastoralbrief verlesen worden. Darin heißt es z.B.: "Ein soziales Gefälle ist entstanden, deren Ausmaße wir nie wieder in Kuba zu sehen gewünscht hätten."
Ein Ergebnis des wirtschaftlichen Niedergangs ist die wachsende Fluchtwelle. In bekannter ostdeutscher Manier prangert der Pastoralbrief die Flucht als einen Ausdruck der Eigensucht an. Im Text steht der Vorwurf, Flüchtlinge auf dem Seeweg würden "das eigene Leben sowie das Leben anderer - einschließlich Kinder - aufs Spiel setzen".
Doch die Kirche will ausgewogen sein. Der Brief nahm auch die USA ins Visier. Es heißt: "Die USA machen sich der Doppelmoral schuldig wenn sie denen Besuchsvisa verwehren, die nur ihre Familien besuchen wollen, jedoch sofort jene als Helden feiert, die illegal ausreisen." Um Einlaß zu gewinnen, verlangen die USA erst einmal ein nasses und waghalsiges politisches Bekenntnis.
Die Auseinandersetzung um den künftigen Weg des kubanischen Volkes spiegelt sich auch im Konflikt der Generationen wider. Die Alten begreifen noch die Entstehungsursachen des jetzigen Staates, die Jugend ist auf den gegenwärtigen Jammer fixiert. Humberto Fuentes, Rektor des ökumenischen Seminars in Matanzas, hatte an jener Schlacht gegen Goliath Anteil. Er sprach vom "mutigen Kampf" seines Zwergstaates gegen den Moloch im Norden. Nun befürchtet er eine Wiederkehr der Demütigungen.
Die Angst der Intellektuellen davor, aufgesaugt zu werden, ist real. In der charismatischen Bewegung wähnt Fuentes einen versteckten Angriff auf die nationale Eigenständigkeit. "Unsere `Kubanität' ist in Gefahr," klagte sein Kollege, der reformierte Theologe Reinerio Arce. Man erinnert sich dabei an die ostdeutsche Auseinandersetzung um Billy Graham
Menschenrechtsverletzungen gibt es, doch die betagten Kämpfer für die Verständigung zwischen Revolution und Glaube haben für Mißstände der Gegenwart nicht das gleiche Empfinden. Rafael Cepeda, ein reformierter Theologieprofessor, wurde nach dem viel genannten Fall von Juan Carlos Gonzalez gefragt. Gonzalez, ein Methodistenpastor in der Stadt Manzanillo, befand sich im vergangenen Jahr in Bedrängnis. "Der Fall ist mir ganz neu," versicherte Cepeda. "Ich besuche den nationalen Kirchenrat fast täglich und bleibe auf dem Laufenden über alles. Ich kenne den Fall nicht."
Gefragt nach der Versorgungslage antwortete der pensionierte Professor: "Sind Sie schon jemandem hier begegnet, der nach Essen fragte? Sind Sie schon jemandem begegnet, der verhungert? Wir Kubaner übertreiben gern. In meiner Wohngegend halte ich Ausschau nach Menschen, die hungern. Ich finde niemanden." Doch unfreiwillige Schlankheitskuren gibt es; Verluste an Körpergewicht sind auf breiter Basis zu vernehmen.
Die evangelische Jugend hat wenig Lust auf die politischen Gefechte der Eltern; sie will lieber einmal richtig satt werden. Die Isolation vom großen nördlichen Nachbarn ist fast allen leid. Nicht nur die Jugend will reisen können.
Was soll werden? Raul Suarez ist Baptistenpastor und Delegierter der Volkskammer. Neben Cepeda rechnet er noch mit einem dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. "In Lateinamerika hat der Kapitalismus schmählich versagt: er gerät immer stärker in die Krise," versicherte er. Ich meine, die Alternative, die dem kubanischen Volk die geringsten Opfer abverlangt, würde bedeuten, daß die Revolution selbst die notwendigen Veränderungen in der Politik und in der Wirtschaft durchführt. Wir werden es nicht zulassen, daß die Politiker aus Miami in unser Land einfallen."
Gunter Koschwitz, ein deutscher Entwicklungshelfer beim Ökumenischen Rat in Havanna, druckte es besonders drastisch aus: "Entweder kommt der dritte Weg nach Kuba, oder es kommt ein großes Blutbad." Auf einen dritten Weg in der Theologie wird ebenfalls noch gehofft. In Matanzas geben die Theologen freimütig zu, daß die Theologie der Befreiung ins Trudeln geraten ist. Professor Arce hofft auf eine Synthese zwischen charismatischer Bewegung und der Theologie der Befreiung.
Ein anderer kirchlicher Würdenträger versichert jedoch es sei für Drittwege bereits zu spät. Dafür ist die Verwesung der Glaubwürdigkeit dieser Regierung schon zu weit gediehen. Wahrscheinlich trifft das gleiche auch für die Theologie zu.
William Yoder
Evanston bei Chicago, den 5. Dezember 1993
Verfaßt für „Die Kirche“ in Berlin, 880 Wörter