Vor kurzem unternahm der Ökumenische Rat Kubas (CEC) einen Versuch: In einem staatseigenen Buchladen wurden 600 Bibeln zum Verkauf angeboten. Das Ergebnis stellte in plastischer Weise den Umfang der religiösen Erweckung Kubas dar: Nach 40 Minuten war die gesamte Ladung veräußert. Bei einer Befragung der 600 Käufer gaben jedoch nur zwei an, Christen zu sein. Nach Angaben des Vizepräsidenten des CEC, der Baptist Jose Lopez, wurde keinem Kunden gestattet, mehr als eine Bibel zu ersteigern. Lopez behauptete schlicht: "Seit drei Jahren ist die Bibel das meistgekaufte Buch in Kuba."
Vor zehn Jahren entging das ökumenische Seminar in Matanzas nur knapp der Schließung. Gegründet im Jahre 1946, hatte es Mitte der achtziger Jahre zeitweise nur noch zwei oder weniger Studenten. Heute verfügt das Seminar über 43 Studenten und umfangreiche Wartelisten. In den zwei Jahrzehnten nach 1964 schaffte kein einziger kubanischer Methodist einen theologischen Abschluß; heute gehören rund 15 der in Matanzas immatrikulierten Studenten dieser Kirche an. Im Jahre 1958 hatte die methodistische Kirche über 10.000 Glieder verfügt; zehn Jahre danach war sie auf 3.000 zusammengeschrumpft. Heute beläuft sich deren Gliederzahl auf 30.000.
Vor zwölf Jahren begann der heutige methodistische Superintendent Rafael Gonzalo Calsado mit nur zwei Gemeindegliedern in der Küstenstadt Guanabacoa. Heute, vorausgesetzt der Lkw funktioniert, finden sich Sonntags 200 Gläubige zum Gottesdienst zusammen.
Ein Sprecher der holländischen Ostmission "Open Doors" behauptete, ein Besuch Kubas sei "einem Neuaufleben der Apostelgeschichte gleich" und verstieg sich sogar zu der Behauptung, Kuba verfüge über die schlagkräftigsten protestantischen Kirchen Lateinamerikas. In der Tat ist die gesamte Kirchenführung Kubas ganz und gar einheimisch. Obgleich noch die Hälfte aller katholischen Priester aus dem Ausland stammt, hat der Protestantismus immerhin drei Jahrzehnte ohne ausländische Pastoren und mit nur einem Mindestmaß an fremder Finanzierung überdauert.
Die heutige Erweckung ist im wesentlichen eine Erweckung der Jugend. Im Havanna-Stadtteil Marianao kamen 200 Jugendliche an einem Montagabend zu einem lebhaften, äußerst charismatischen Gottesdienst zusammen. Im laufenden Jahr hat diese Gemeinde 150 Mitglieder zugelegt; 80 Prozent von ihnen sind noch nicht einmal 20 Jahre alt. "Vor fünf Jahren kamen nur noch die Alten hierher," behauptete ein Besucher. Nur zwei oder drei der 80 Jugendlichen in der Gemeinde des Superintendenten Calsado stammen aus einem protestantischen Zuhause.
In der methodistischen Hauptgemeinde Havannas, in der Fidel Castro und Jesse Jackson 1984 ihr historisches Treffen abhielten, fanden an einem Mittwochabend 150 Teenager ein, um sich in Fragen des Glaubens unterweisen zu lassen. Für viele Teilnehmer ging der Abend erst nach drei Stunden zu Ende.
Humberto Fuentes, Rektor des protestantischen Seminars in Matanzas, berichtete von einer empfindlichen Lücke beim Kirchgang: Die Eltern der heutigen Jugend halten sich fern. "In den sechziger Jahren sind die Pastoren en masse ausgewandert," erklärte er. "Deshalb fehlt uns heute die Jugend von damals."
Um der Nachfrage Herr zu werden, werden Gottesdienste in Privatwohnungen abgehalten. Die meisten traditionellen Gemeinden sind heute von zwei bis fünf Außenstellen umringt; doch die Methodistengemeinde in Colon hat bereits 27 Predigtstellen und Hausgemeinden um sich geschart. Die gesamte Gemeinde in Colon besteht aus rund 1.000 Gliedern. Die größten Hausgemeinden verfügen über bis zu 150 Glieder und werden nun selbst offiziell als selbständige Ortsgemeinden registriert. Übermäßig optimistische Prognosen berichten von 4-5.000 Hausgemeinden. Konkret kann jedoch berichtet werden, daß beispielsweise die Methodisten, die über 108 historische Kirchengemeinden verfügen, Gottesdienste an 300 verschiedenen Orten abhalten.
Pfingstler, Baptisten und Methodisten haben in eben dieser Reihenfolge am meisten von der Bewegung zur Schaffung von Hausgemeinden profitiert, Presbyterianer und Anglikaner am wenigsten. Das Schlußlicht bilden jedoch die Lutheraner: Seit jüngsten Datums auf drei gegnerische Denominationen verteilt, kommen sie kaum über 300 Mitglieder hinaus. Nur in Miami scheint das kubanische Luthertum imstande, enttäuschten Katholiken eine Bleibe zu bieten.
Die Hausgemeinden sind zugleich das Kind einer Notsituation: Die generelle Benzinverknappung und der Niedergang des öffentlichen Verkehrssystems haben die Menschen auf jene Gebiete, die zu Fuß oder mit dem aus China importierten Fahrrad zu erreichen sind, beschränkt. Die wirtschaftliche Not beschränkt die Denominationen darauf, bereits bestehende Gebäude zu sanieren.
Nachdem die Hausgemeinden im Dezember 1991 von Fidel höchst persönlich grünes Licht erhalten hatten, ließ sie die Regierung bis Mai dieses Jahres ungeschoren gewähren. Dann wurde jedoch beschlossen, daß sie allesamt der Registrierung bedürfen: Sie soll auch nur gewährt werden, wenn alle Nachbarn mit solchen Veranstaltungen einverstanden sind und keine zweite protestantische Gemeinde in unmittelbarer Nähe liegt.
Es soll jedoch nicht übersehen werden, daß nicht nur christliche Kirchen vom geistlichen Aufwind profitieren. Der Journalist Andres Oppenheimer weist darauf hin, daß obgleich Kuba über nicht mehr als 250 katholische Priester verfügt, die Insel gleichzeitig 4.000 Santeria-Priester aufweist. Der Santeria-Glaube, der die größte von drei afro-kubanischen Kultgruppierungen bildet, ist mit dem Katholizismus synkretisch verwoben. Die militärischen Feldzüge Kubas in West- und Ostafrika im vergangenen Jahrzehnt haben den Einfluß der Santeria zu Hause nur verstärkt.
Ein hochgestellter Protestant in Havanna beschwerte sich darüber: "Ständig stoße ich auf `Santeros' aus Miami, die hier auf dem Markt mit ihrem Wohlstand hausieren gehen. Unser Staat verteilt großzügig Visa an sie, obwohl es für uns oftmals höchst beschwerlich ist, Kirchendelegationen einzuladen. Ein Ritual, das in Miami 7.000 Dollar verschlingen kann, kostet in Havanna kaum mehr als 5.000 Dollar." Aufwendige Kulthandlungen verlangen u.a. Tieropfer und die Erde von sieben Friedhöfen. Oppenheimer unterstützt die Auffassung, daß sich der dollararme kubanische Staat in der afrikanisch-kultischen Bewegung eine Hauptquelle touristischer Einnahmen erhofft.
Ein dramatischer Pastoralbrief der Methodisten, der am 19. September von allen Kanzeln verlesen worden ist, berichtet, daß "sich afro-kubanische Kulten im Namen der Nationalkultur profilieren" und protestiert gegen den Gebrauch der Massenmedien "um Santeria und die Menschen, die sie praktizieren, zu propagieren, während die Kirchen nirgends die Möglichkeit haben, die ethischen Werte zu vermitteln, die unsere kubanische Gesellschaft so dringend braucht. Die Lieder im kubanischen Rundfunk bestehen aus einer Mixtur von Katholizismus und den afrikanischen Orishas [heidnischen Göttern]. Der Satanismus hat den Rang von `Folklore' erreicht."
Die staatliche Bevorzugung der Santeria geht wahrscheinlich über das Kalkül hinaus, die afrikanischen Götter im politischen Kampf gegen den Vormarsch der christlichen Kirchen einzusetzen. Der ebenerwähnte protestantische Führer wähnt überzeugte Santeros selbst innerhalb des Politbüros.
Die Unterdrückung der christlichen Kirchen gehört nicht gänzlich der Vergangenheit an. Obgleich Castro mehrere entgegenkommende Schritte unternommen und die Warenlieferungen der Kirchen Nordamerikas und Europas der traditionellen Reserve doktrinärer Marxisten stark zugesetzt hat, werden die Hausgemeinden hin und wieder drangsaliert. In Holguin und in der fernwestlichen Provinz Pinar del Rio wurden Pressekampagnen gegen die Evangelikalen und Charismatiker durchgeführt. In der ostkubanischen Stadt Manzanillo wurde 1992 der methodistische Pastor Juan Carlos Gonzalez von "Turbas" - jugendlichen Raufbolden - massiv bedroht. Nur das Einschreiten höherer Stellen brachte damals die Schlichtung.
"Selten haben wir gegen derartig gewaltige Widerstände zu kämpfen," versicherte Superintendent Calsado besänftigend. "Das Klima hängt in starkem Maße von den juristischen Interpretationen der örtlichen Behörden ab. Doch die Kirche ist ohne Furcht; wir schreiten voran."
Bill Yoder
Evanston, Illinois/USA, den 19. November 1993
Verfaßt für den „Evangelischen Pressedienst“ in Frankfurt/M., 1.088 Wörter