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Die lutherische DELKSU – eher russisch als deutsch

Neuigkeiten aus Riga

 

Riga ist die Hauptstadt des wiedergeschaffenen baltischen Staates Lettland.  Sie hat das seltene Glück, als Bischofssitz für zwei lutherische Kirchen zu fungieren.  Als erste fällt einem die Kirche der lettischen Lutheraner auf.  Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte sie 900.000 Mitglieder; sie rechnet heute damit, daß sich in Lettland die Zahl der Lutheraner und Katholiken die Waage halten werde.

 

Diese lettische Kirche will wieder Staatskirche werden.  Neben dem Evangelium predigt sie auch die Nation.  Fahnen und Denkmäler weiht sie neu ein; den Kampf um die Durchsetzung der Losung: "Lettland den Letten" führt sie in vorderster Reihe mit.  Diese Lutheraner haben eine theologische Fakultät sowie die erste christliche Grundschule Lettlands in Riga eröffnet; beide ernähren sich aus dem Staatssäckel.

 

In Riga befindet sich aber zugleich der Sitz der "Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Sowjetunion", genannt DELKSU.  Offiziell hat sich diese Kirche erst vor zwei Jahren konstituiert.  Sie umfaßt rund 400 Ortsgemeinden und ist flächenmäßig die größte lutherische Kirche der Welt.  Nichtsdestotrotz machen lettische Lutheraner um sie einen Bogen.  Nicht etwa weil diese Kirche für eine deutsche, sondern weil sie für eine russische Kirche gehalten werde.

 

Diese Einschätzung ist nicht völlig unzutreffend: Die Jugend innerhalb der DELKSU erlebt Deutsch zumeist nur noch im Gottesdienst.  Eigentlich läßt sich der Kirchenname in zweifacher Weise anzweifeln: Nicht nur das Deutsche ist an ihr zu hinterfragen; ihre Zentrale befindet sich seit der Anerkennung Lettlands als Staat nicht einmal innerhalb der Sowjetunion.  Deshalb legen Letten der Kirchenleitung einen baldigen Umzug nahe.

 

Der deutsch-lettische Bischof der DELKSU, Harald Kalnins, hat sich vorgenommen, aus den zwischen Ostsee und Pazifik verstreuten Gemeinden eine Kirche zu schaffen.  Dies hat zu Spannungen auf Gemeindeebene geführt.  Ortsgemeinden, die ganz von der Basis her aus den Scherben, die der Stalinismus hinterlassen hatte, entstanden sind, sollen sich nun den Anweisungen einer fernen kirchlichen Zentrale unterwerfen.  Nicht alle sind bereit, eigene Macht und Kompetenzen an übergemeindliche Instanzen abzugeben.  Zum Mißtrauen gegenüber der Zentrale in Riga erklärt der achtzigjährige Bischof [Kalnins]: "Dieses Problem hat seine Wurzel in der Tatsache, daß viele Gemeinden, die aus dem Nullpunkt entstanden sind, nach den Wirrnissen, nach den Verfolgungen, nach dem Krieg, Deportationen.  Da fanden sie sich zusammen um die Bibel, um das Beten, aber kein einziger Pfarrer war mehr da.  Drei Pastoren waren da: Einer in Moskau, in Zelinograd (Bachmann) und der Dritte, der war schon nicht mehr an einer Gemeinde.  Das waren drei ordinierte Pastoren seinerzeit. Das andere: Alle, alle dieser Hunderten von Gruppen, die sich gebildet hatten, sie hatten keine ordinierten Pfarrer, sondern das waren Brüder sozusagen.  Pietistisch gefärbte, ich bin selbst aus dieser Schicht sozusagen komme ich, und ich muß sagen, das ist wunderbar.  Aber: Ein Bruder ist nicht dasselbe was ein Pastor [ist], nicht wahr.  Das ist die Sache.  Darum ging es dann: Wer wird jetzt die Oberhand gewinnen, wer wird jetzt die Leitung gewinnen: die Brüder, oder die Kirche, die Pastorenkirche?"

 

Die DELKSU verfügt über keinerlei Spenden des gastgebenden lettischen Staates, aber sie geht nicht leer aus.  Sie lebt von den Spenden westlicher Partnerkirchen und Missionen.  Allerdings schafft dies weitere Probleme.  Am auffälligsten ist die Unterstützung durch die fundamentalistische Missouri-Synode aus den USA.  Für die theologischen Lehrkurse, die in Riga angeboten werden, stellt sie Lehrkräfte zur Verfügung; im Januar soll die Missouri-Synode dort mit einer russischen Rundfunkarbeit beginnen.

 

Die bescheidene Kirchenzentrale in Riga ist redlich um die Koordinierung der entstehenden Hilfsprojekte bemüht.  Allerdings erfuhr sie nur per Zufall, daß die Missouri-Synode in Sankt Petersburg ein sogenanntes "Lutherhaus" plant.  Da will die vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Amerikas (ELCA) der Missouri-Synode das Feld nicht kampflos überlassen.  Deshalb hat sie eine Sammelaktion zur Schaffung eines Seminars innerhalb der engeren Grenzen Rußlands gestartet.  Ja: Auch dieses Vorhaben wurde ohne Absprache mit Riga in die Wege geleitet.  Doch gegen das Vorhaben ist die DELKSU keineswegs.

 

Es bestehen bereits sechs lutherische Kirchen innerhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion.  Die Leitung der DELKSU fürchtet, manche Missionsvorhaben aus dem westlichen Ausland könnten sich verselbständigen und zu weiteren Kirchengründungen führen.  Darum nimmt sie viele Pläne westlicher Kirchen und Missionen mit einer gewissen Nervosität zur Kenntnis.

 

Auch die Evangelische Kirche in Deutschland ist mit von der Partie.  Am Ersten Advent wurde Frank Lotichius von der nordelbischen Kirche als Pfarrer der Gemeinde zu Sankt Petersburg eingeführt.  In diesen Tagen beginnt Pastor Kurt Beyer aus Dresden eine deutsche Gemeinde im Raum Königsberg zu sammeln.  Rektor des sich in Riga formierenden Seminars ist der emeritierte Münchener Professor Georg Kretschmar.  Im Vorhaben Seminar mischen sogar die Deutschen aus Siebenbürgen mit: sie stellen ebenfalls Dozenten für die fünfwöchigen theologischen Lehrgänge zur Verfügung.  Als pietistische Minderheitskirche in einem orthodoxen Land weisen die Rumänendeutschen besonders zahlreiche Gemeinsamkeiten mit den Deutschen Rußlands auf.

In Gemeinden, in denen ein Bruderkuß vorgeschrieben und das Schlipstragen verpönt ist, versteht es sich von selbst, daß evangelische Pfarrer aus Deutschland an Eingewöhnungsschwierigkeiten leiden würden. Nicht wenige Deutsche würden diesen Wandel als eine Restauration auf der ganzen Linie anprangern.

 

Bill Yoder

Evanston/IL, den 5. Dezember 1991

 

Verfaßt für den Sender Freies Berlin.