Die polnischen Kirchen vor der Wahl
Gehorchen konservative polnische Katholiken noch ihrem Papst? Am 9. Juni 1991 war Johannes Paul der Zweite in der lutherischen Kirche Warschaus aufgetreten. Damals versicherte er, die Toleranz sei zur Gestaltung des Verhältnisses zwischen polnischen Katholiken und Protestanten unzureichend, sie müsse vielmehr durch die Liebe abgelöst werden. Er wandte sich ferner gegen die Volksweisheit, daß der Lutheraner ein Deutscher und der Katholik ein Pole sei.
Diese Aussagen stehen im geistigen Widerspruch zu einer Predigt des Landsberger Bischofs [Gorzow Wielkopolski] Józef Michalik Ende September. Im Hinblick auf die kommenden Wahlen beteuerte er: "Der Katholik ist verpflichtet, für einen Katholiken zu stimmen, . . . der Muslime für einen Muslimen, der Jude für einen Juden, der Freimaurer für einen Freimaurer, und jeder Kommunist für einen Kommunisten." Dies heißt im Klartext, daß der Katholik weder für Juden noch für Evangelische seine Stimme hergibt. Eine Kanzelabkündigung im gleichen Zeitraum stellte fest, der Katholik dürfe keine Partei wählen, die für die Abtreibung oder gegen den Religionsunterricht eintritt.
Wegen der Abtreibungsfrage unter anderen schreitet das polnische Episkopat schweren Zeiten entgegen. Im Volk war die katholische Kirche als Wächter der Nation willkommen, nicht jedoch in ihrer neuen Rolle als Wächter der Moral. Deshalb bricht eine Kluft zwischen Hierarchie und Basis auf.
In dieser Kluft zwischen katholischer Führung und mündiger Basis wollen sich die polnischen Lutheraner profilieren. Nach Kriegsende wurde Warschauer Lutheranern das Mikolaj-Rey-Gymnasium genommen. Jetzt fordern sie vehement dessen Rückgabe. Dieses Gymnasium soll als Sammelbecken für kritische katholische Geister fungieren. Es wird versichert, zahlreiche Mitglieder der katholischen Intelligenz warten ungeduldig darauf, ihren Nachwuchs für dieses Gymnasium anmelden zu können.
Der neue Bischof der lutherischen augsburgischen Kirche, Jan Szarek, ist Pietist. Es gibt jedoch Indizien dafür, daß diese Kirche einen liberalen Geist verkörpert. Eine Stellungnahme der Lutheraner spricht sich gegen ein staatliches Verbot von Abtreibungen aus. Man gewinnt den Eindruck, die evangelischen Kirchen hätten dem Religionsunterricht in Schulen nur zugestimmt, um den Katholiken nicht kampflos einseitige Vorteile zu bescheren.
Die Handhabung ökumenischer Belange spricht ferner für eine relative Offenheit der augsburgischen Kirche. Im Gebiet des ehemaligen Ostpreußen genießen griechisch-katholische Gemeinden in vier lutherischen Kirchen Gastrecht. Das ist nicht selbstverständlich, denn diese Christen - sie werden auch "Unierte" genannt - unterstehen der römischen Kirche. Die Weigerung von katholischen Pfarreien, sie aufzunehmen, hängt damit zusammen, daß sie dem Verdacht ausgesetzt sind, als Ukrainer ein trojanisches Pferd zu sein.
Die ökumenischen Beziehungen zur römischen Kirche bleiben schlecht. Dank des Abkommens zwischen Staat und katholischer Kirche von Mai 1989 wird ihr Eigentum in großzügiger Weise zurückerstattet. Sie bekommt sogar Besitz, der nach dem Ersten Weltkrieg verstaatlicht wurde, zurück. Dagegen unterliegen die evangelischen Kirchen einem langwierigen Genehmigungsprozeß. In Warschau selbst gilt weiterhin eine Gesetzgebung vom Kriegsende: Darum bleibt das Gymnasium staatliches Eigentum, deshalb sogar wurde die Bibelgesellschaft kürzlich dazu aufgefordert, das Haus zu räumen, das sie nach Kriegsende gekauft hatte.
Zu diesen Eigentumsfragen äußerte sich Senior Jan Walter, Leiter der Warschauer Diözese: "Wir warten noch immer, daß diese Sache auch bei uns zwischen Staat und der evangelischen Kirche geregelt sein wird. Aber man spricht immer: ‚Sie müssen noch warten, es kommt eine neue Satzung in Polen und erst in dieser Satzung wird die Rolle der katholischen Kirche eingeschrieben und davon wird das Verhältnis des Staates zu den nichtkatholischen Kirchen abhängig sein.’ Und ich muß hier offen sagen, ich bin voll von Protest gegen solche Argumentation. In einer neuen modernen Gesellschaft, in einem Staat, der sich bemüht in ein europäisches Haus zu kommen, solche Argumentation ist mir ganz fremd und klingt so schrecklich klerikal."
Obwohl noch größere Armut vorausgesagt wird, versicherte mir niemand, daß Polen auf dem Wege in die Dritte Welt sei. Dieser anhaltende Optimismus wird neben der schier unübersichtlichen Zahl von Parteien dafür sorgen, daß es zu keinem politischen Erdrutsch kommt. Viele Parteien sind in der Spannung zwischen kirchlicher Hierarchie und Basis verstrickt. Schon deshalb wird das Episkopat seine Traumregierung nicht bekommen; die evangelischen Kirchen aber auch nicht. Dafür sind die 70.000 Lutheraner zu schwach.
Bill Yoder
Berlin, den 8. Oktober 1991
Verfaßt für den Kirchenfunk des „Senders Freies Berlin“, 662 Wörter
Anmerkungen von April 2022: Johannes Paul II. (1920-2005) wurde 1978 zum Papst gewählt. Józef Michalik (geb. 1941)
diente von 2004 bis 2014 als Vorsitzender der Polnischen Bischofskonferenz. Zwei Jahre später trat er aus altersbedingten Gründen von seinen Ämtern zurück.
Jan Szarek (1936-2020) war Bischof der Augsburgischen Kirche Polens von 1991 bis 2001. Jan Walter (1934-1995) war Senior der Warschauer Diözese der lutherisch-augsburgischen Kirche von 1979 bis zu seinem Tode.