BUCHREZENSION
Stoll, David, Is Latin America Turning Protestant? The Politics of Evangelical Growth, University of California Press, Berkeley, 1990
GEDANKEN ANHAND EINES BUCHES
Am 6. Januar wurde der Geschäftsmann Jorge Serrano Elías zum Präsidenten Guatemalas gewählt. Serrano, Staatsratsvorsitzender unter dem 1983 gestürzten Pfingstler und Diktator Efraín Ríos Montt, gehört der elitären "El Shaddai" (der Allmächtige auf Hebräisch) Pfingstgemeinde an. Wer aus dieser und ähnlichen Entwicklungen die unter Katholiken und Linken wohlgelittene Verschwörungsthese zu erhärten erhofft, wird in dem Buch David Stolls jedoch wenig Ermutigung finden. Im Jahre der Demission von Ríos Montt war der Anthropologe Stoll mit einer Kampfschrift [Fishers of Men or Founders of Empire?] gegen die Bibelübersetzermission Wycliffe angetreten. Dank evangelikaler Durchbrüche setzte inzwischen das Nachdenken ein: Stolls grübelnde Gedanken bleiben jedoch der Lektüre wert.
Schon eingehend konstatiert der Verfasser, daß das Erfolgsgeheimnis der Pfingstgemeinden im lateinamerikanischen Raum nicht in der perfiden Verpackung oder Masse ihres Angebots liegt, sondern in der Nachfrage vor Ort. Einen Missionar zitierend, schätzt er diese Nachfrage sogar für konjunktursicher ein: "Wenn du Gemeindewachstum willst, bete für den wirtschaftlichen und politischen Niedergang."
Politische Verschwörungen -- siehe Oliver Norths Instrumentalisierung von Missionen zur Durchsetzung US-amerikanischer Außenpolitik -- bestehen tatsächlich, meint Stoll, sie sind jedoch als Erklärung für den evangelikal-charismatischen Vormarsch unzureichend.
Seit den noch inquisitorischen fünfziger Jahren haben die Evangelikalen Lateinamerikas einiges geschafft: Rund 90% der chilenischen Protestanten sind Pfingstler; in Brasilien versammeln sich an Sonntagen bereits mehr Protestanten als Katholiken. Die Wachstumsraten reichen über die Subventionen aus dem hohen Norden hinaus: Obgleich die Pfingstgemeinden nur 10% der ausländischen Missionare stellen, schaffen sie 63% der Bekehrten. Allein die in Springfield/Missouri beheimateten "Assemblies of God" stellen einen Viertel aller sechs Millionen Protestanten Lateinamerikas; sie weisen jährliche Wachstumsraten von rund 23% auf. Protestantische Optimisten behaupten, innerhalb weniger Jahrzehnte werde sich ein Drittel aller lateinamerikanischen Christen evangelisch nennen.
WOHER DIESE BELIEBTHEIT?
Die Anziehungskraft der Pfingstgemeinden sieht der Verfasser u.a. in dem Bestehen von heimischen, egalitären und partizipatorischen Strukturen. Hier wird auch Ungeschulten Führungspositionen zugemutet, und nicht erst nach sieben Jahren Hochschule. In diesen winzigen, dezentralen Einheiten ist der Einzelne wieder wer. Diese Gemeinden bauen sich eher von unten her auf: Sicher haben sie faktisch das päpstliche Amt, jedoch verfügen sie nicht über einen, sondern über Hunderte von Päpsten. Das Erfordernis vieler Pastoren, den Lebensunterhalt aus dem örtlichen Spendenaufkommen zu finanzieren, zwingt sie zur Basisnähe und zum aktiven Missionieren. Stoll bezeichnet ihre Strukturen als stabil und flexibil. Wahrscheinlich sind sie es auch deshalb weil ein Glaubensaktivist, wie Serrano übrigens, aus mehreren pfingstlerischen Kirchen austreten kann, ohne sich jemals einer anderen Denomination anschließen zu müssen.
Der Schutzdeckel dieses Buches zeigt einen heftig gestikulierenden Jimmy Swaggert am Zenit seines Ruhmes: auf einer Bühne an der Plaza de la Revolución im Schoß der sandinistischen Revolution. Das war im Februar 1988, nur Tage vor Swaggerts jähem Absturz. Bis zu seinem durch sittliches Vergehen bedingten Ausscheiden war dieser Pfingstevangelist in Lateinamerika ein Vertrauensträger ersten Ranges. Mag sich die geistige Nähe von Swaggert und den lateinamerikanischen Volksmassen daraus erklären, daß sich der honduranische Hinterwald leichter mit dem US-amerikanischen Hinterwald verständigt als mit der Universität von Bologna? Die Neureichen der USA und die Immerarmen Lateinamerikas haben eins gemeinsam: Beide sind einer intellektuell kargen Umwelt entsprungen.
Stoll hält den Fernsehevangelisten zugute, daß die von ihnen feilgebotenen Rezepte unmittelbar und nachprüfbar seien. Das Ordnen unordentlicher Existenzen, die Absage an Trunksucht und Hurerei, hat auch auf den amerikanischen Kontinenten einen offenkundigen Nutzwert. Schließlich sind es nur liberale und linke Christen, die zögern, sittliches Verhalten und die Privatmoral ins Blickfeld zu nehmen.
Laut Stoll stimmen alle Evangelikale darin überein, daß die Bekehrung von Einzelnen den gesellschaftlichen Umschwung verheißt. Uneinig seien sie sich nur darüber, ob Ríos Montt oder die Sandinisten der passende Hoffnungsträger sei. Der Verfasser meint zu wissen, daß der Marxismus dem Arbeitsplatz und das Pfingstlertum der Familie entspringt. Im Eingehen auf Haushalt und Familie sieht er einen Schlüssel ihres Erfolges.
Der Wissenschaftler aus Kalifornien konstatiert ferner, daß die Pfingstler wichtige Stränge katholischen Volksglaubens übernommen hätten. Latinos glauben wirklich in "die magische Befreiung von Leid"; somit hätten die Pfingstler schlicht die Madonna von Guadalupe durch den Heiligen Geist ersetzt. "Power encounters", ie. Konfrontationen zwischen den Göttern zur Feststellung von Vormacht, sind seit je her beliebt. Allerdings fügt der konfessionslose Anthropologe mit einer Prise Bedauern hinzu, daß in Konfrontationen mit dem ebenfalls populären Voodoo, diese afrikanische Urmagie "gegen die geballte Wucht von gedrucktem Wort, Revolver und Antibiotika" keine Chance habe.
Geschieht doch tatsächlich wundervolles? Mangels bezahlbarer Zahnärzte hatten chilenische Gläubige 1984 Zahnfüllungen erbetet; danach wurde ausländischen Besuchern stets eine Reihe von Jugendlichen mit aufgespreizten [offenen] Mündern vorgeführt. Ebenfalls die "Heilige Trunkenheit" und die Betonung der Mystik haben katholische Vorbilder.
DIE LEIDEN DER BEFREIUNGSTHEOLOGIE
Abgesehen davon, daß die Befreiungstheologie den Eingeborenen fremde Rezepte einsuggieriert und sich somit dem Verdacht eines ideologischen Kolonialismus öffnet, macht ihr Stoll den Vorwurf, die traditionelle Schutzfunktion der Kirche zu zerstören. Nach James Scott widerspricht die Befreiungstheologie der bewährten Überlebensmethodik der Armen: "Nachgeben, Verschleppen, Umgehen". Bisher verstand sich Kirche als Zuflucht; im evangelikalen Rahmen ist dem Gläubigen dieses Resignieren weiterhin gestattet. Die Resignation als Schutzmantel hat auch ihren Lohn: Deshalb klatschten u. sangen die nikaraguanischen Pfingstler, während sie im Ermessen von Außenstehenden Revolutionen zu verteidigen hatten.
Die Befreiungstheologen verlangen einem den Kragen ab, die Evangelikalen und Pfingstler retten ihn ihm. In El Salvador "sind die Menschen aus Sicherheitsgründen, nicht aus Antikommunismus, den Evangelikalen beigetreten". Nach den Schlachten der Titanen sind es die Evangelikalen gewesen, denen die Aufgabe zufiel, die Scherben aufzusammeln. Revolutionen, z.B. die guatemaltekische, lassen sich tatsächlich mit Gewalt ersticken: Für den Heldentod gibt es ja selten Mehrheiten. Somit entsteht eine bedenkliche Arbeitsteilung in der "counterinsurgency", die Stoll nicht werten will: Das Heer ist die Peitsche, die Kirche, das Zuckerbrot.
Stoll führt mehrmals an, daß "redemption and lift", die Bekehrung des einzelnen gefolgt von sittlichem Anstieg, den sozialen Plan der Evangelikalen beschreibt. Europäischen Frauen mag jene Devise nicht gerade emanzipatorisch vorkommen, die Mütter Lateinamerikas sollen jedoch ihre Vorteile daraus ziehen. Männer, die die männlichen Laster lassen, können das weibliche Geschlecht nur ermutigen; der Verzicht auf Tabak und Feuerwasser trägt stets zur Aufbesserung der Haushaltskasse bei. Das gesittete Leben, folgert der Verfasser, führt zu sozialem Anstieg.
Liegt auch darin ein Hoffnungskern für die Zukunft? Der Autor räumt ein, daß die Ansichten der jüngsten Kolonisatoren, die Charismatiker und Fernsehprediger, gemeingefährlich seien. Jedoch weigert er sich, die Gleichung Evangelikales = Konterrevolution aufzustellen. Die nächste, eher heimische Generation sorgt meistens für Überraschungen: siehe z.B. das Zusammenwirken von linken Katholiken und Pfingstlern in den mexikanischen Wahlen von 1983 oder die Ermordung eines mormonischen Gewerkschaftsführers in Guatemala drei Jahre zuvor.
Nicht alles was oben eingegossen wird, sickert nach unten durch, und, auch wenn es unten antröpfelt, fällt es auf keine formlose Kleemasse. Auch der unbelesenste Campesino ist keine tabula rasa. Deshalb, so ist dem Buch zu entnehmen, bleibt der Ausgang des evangelikalen Aufbruchs offen. Dieser Aufbruch wird allemal ein Umkrempeln der alten soziologischen Ordnung beinhalten -- eine neue Herrschaftselite bildet sich bereits heraus.
Auf linksevangelikaler Grundlage wähnt Stoll eine mögliche Synthese. Das Zusammentreffen u.a. von Fundamentalisten und Befreiungstheologen mit zunehmender wirtschaftlicher Not könnte "die Antagonisten bis zur Unkenntlichkeit verstellen". Da die Befreiungstheologie noch lernfähig sei, sei ihr Nachruf verfrüht. Schaut sie dem Volk wieder aufs Maul, oder genauer: läßt sie die Umformulierung ihres Programms von der Basis her entstehen, ist eine Erholung denkbar. Die Befreiungstheologie versuchte den Frontalangriff, werden die Evangelikalen häppchenweise über Generationen an ähnliche soziale Ziele angelangen? Das will der maßvoll gewordene Anthropologie-Student von der Stanford-Universität nicht ausschließen.
Bill Yoder
Evanston, den 10. Januar 1991
Verfaßt für das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“, 1.215 Wörter