Die Amischen haben ihren Strom
Spätestens seit dem Hollywood-Streifen "Der einzige Zeuge" ist die einzigartige Glaubensgemeinschaft der Amischen weltbekannt. Die Amischen sind vor 298 Jahren im Elsaß aus einer Spaltung unter den Mennoniten hervorgegangen; ihr Gründer war der Schweizer Jakob Ammann. Bereits seit 260 Jahren befinden sich Amische in Nordamerika; die letzte Gruppe, die Europa verließ, ist 1860 ausgewandert. Heute nennen nahezu alle Nordamerika ihre Heimat; 75% ihrer Glieder wohnen in den US-Bundesstaaten Ohio, Pennsylvania und Indiana.
Angesichts ihrer strengen Tracht werden diese Gläubige oft so dargestellt, als stammten sie allesamt aus der gleichen Backform. Ihre Bräuche sind jedoch durchaus verschieden. Die Männer tragen entweder zwei, einen, oder keinen Hosenträger. Die Pferdekutschen gibt es in beliebigen Ausführungen: Schon an deren Türen kann ein Kenner feststellen, genau aus welchem Gemeindebezirk der Kutscheninhaber stammt. Das Dach - wenn überhaupt gestattet - kann schwarz, weiß, grau, oder sogar gelb sein.
Es bestehen für den Nichteingeweihten himmelschreiende Widersprüche. Der Stromanschluß zur Außenwelt ist verpönt, nicht jedoch der Taschenrechner. Gürtel und Schnurrbart mögen untersagt sein, der Bart ist jedoch Pflicht und modernes Schuhwerk oftmals geduldet. Die heutige Kutsche ist ein Paradigma für diesen Widerspruch: Sie hat häufig eine Glasfiber-Karosserie, Kugellager an den Achsen, hydraulische Bremsen, elektrische Beleuchtung und Richtungsanzeiger, sowie eine bunte Teppichausstattung im Innern. Sie wird vom pensionierten Uberlebenden einer Trabrennbahn gezogen.
Betrachtet nach dem Gesichtspunkt der Autoritätsfrage, löst sich das Rätsel auf. Wer sich dem Diktat seiner Ortsgemeinde nicht unterwirft, gilt als hochmütig. Und der Hochmut ist ein Grundübel. Kaum einer würde behaupten, der Schnurrbart oder das Kutschendach sei an sich moralisch verwerflich. Problematisch ist nur der Unwille, sich dem Gebot der Gemeinschaft zu unterwerfen, welches das Tragen eines Schnurrbartes zum Ausdruck bringt.
Die Vielfalt besteht aber nur zwischen, nicht innerhalb von Gemeindebezirken. Innerhalb des Bezirkes wird der Einzelne zum Ablegen eines Bekenntnisses geradezu gezwungen. Dank präziser Vorschriften kann sich keiner an der Bewährungsprobe vorbeimogeln - die Bereitschaft zum Gehorsam muß demonstriert werden. Somit kann rasch festgestellt werden, ob eine neue Person für das gemeinsame Leben taugt.
Die amische Abwehrfront steht nicht still; es findet vielmehr ein ständiges Verhandeln mit der Moderne statt. Bauernhöfe werden gerade modern genug gehalten, um sich wirtschaftlich behaupten zu können. In den letzten Jahrzehnten sind Innentoiletten, Waschmaschinen, Gaskühlschränke und Gardinen gang und gebe geworden. Allerdings darf die Autorität der Prediger niemals übergangen werden. Wird z.B. ein Gerät für das Ausmisten von Scheunen auf den Index gesetzt, müssen die Tüftler andere entwickeln, die den gleichen Zweck erfüllen. Inzwischen gibt es luftbetriebene Nähmaschinen und hydraulische Schreibmaschinen. Böse Zungen nennen Preßluft und Hydraulik den amischen Strom.
Fehlt es dem Andersdenkenden an technischer Mobilität, muß er die räumliche Mobilität ergreifen und in einen Gemeindebezirk umziehen, der ihm das gewünschte Gerät nicht vorenthält. Somit wird keine Autoritätsinstanz ins Wanken gebracht.
Offensiv sind die Amischen nur in der Kinderzeugung, ansonsten blicken sie defensiv auf eine übermächtige und listige Umwelt. "Starke Zäune schaffen gute Nachbarn," heißt es. Zerreißt ein Zaun, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Welt sich ihrer bemächtigt hat.
Die Amischen glauben an das amerikanische Sprichwort: Wird einem ein Zoll gewährt, holt er sich eine Meile. Dafür liefern Gemeindebezirke in Kansas das gegenwärtige Lehrbeispiel. Dort erledigt man Einkäufe mit dem Traktor; da nimmt der Traktor mit Gummireifen und Anhänger schon die Funktion eines Autos wahr. Die Prophezeiung anderer Amischer, die Kollegen in Kansas stünden knapp vor dem Erwerb richtiger Blechkisten, wird sich zweifellos erfüllen. "Besser auf Nimmersicher gehen und den Gummireifen ganz verbieten," heißt es in Pennsylvania. Deshalb ist im Bundesstaat Indiana die Hartgummibereifung für Kutschen umkämpft.
Äußerlich geht es den Nachfolgern Jakob Ammanns glänzend. Heute gibt es 100.000 Amische, 96.000 mehr als vor hundert Jahren. In den letzten 40 Jahren hat sich ihre Zahl verdreifacht. Das Schaffen eigener Grundschulen und Betriebe seit Kriegsende hat die amische Subkultur weit über den Bauernhof hinauswachsen lassen.
Inzwischen lockt ihr mutiges Trotzen gängiger Weisheiten die Suchenden und Sensationsgierigen aller Länder an. Gegen die Verfolgung haben sich die Amischen behauptet - werden sie auch der Huldigung widerstehen?
Mit der erwähnten Ausbreitung ihrer Subkultur gehen Gefahren einher. Die schleichende Urbanisierung wird das innere Abschotten erschweren und die Kinderzahl vermindern. Nur noch die Hälfte der Männer ist Landwirt. Ihre Landschaften sind übersät mit winzigen neuen Höfchen, die nur noch über Haus und Pferdestall verfügen.
Neben der Pferdewirtschaft und dem Leben auf dem Lande ist die Sprache ein weiterer wichtiger Zaun. Aber der Dialekt Pennsylvania-Deutsch bröckelt. Bereits ein Viertel des Wortschatzes ist dem Englischen entnommen. Es gibt Deutsche, etwa den "Verein für das Deutschtum im Ausland", die helfen wollen.
Professor Sam Yoder, ein Mennonit und ehemaliger Anhänger der Amischen, erzählte dem Verfasser von dem bedrohlichen Aha-Erlebnis junger Amischer, die die biblische Botschaft in englischer Sprache erforschen: "Die junge Leit verstehe nett viel von die Gmä, von die Bredich [Predigt], wo sie mehr Hochdeitsch brediche. Und sie juse [use = gebrauchen] die alte [unrevidierte] Lutheran-Biwel und die junge Leit verstehe nett alles. Viele Worte dann meene [bedeuten] nix für sie. Sie hen angfange die Biwel lese in Englisch, u. hens besser versteh kenne und hen dann gedenkt, well, all of a sudden hen sie Stoff versteh kenne, was sie nett griegt hen wenn sie Deitsch glese hen."
Das größte Wunder unter den Amischen ist zweifellos das Faktum ihrer Existenz. Welche Dynamik macht es ihnen möglich, der Assimilierung die Stirn zu bieten? Vor drei Jahren ist in Shipshewana, ein winziges Nest im Norden des Bundesstaates Indiana, das sehr mennonitische Informationszentrum "Menno-Hof" entstanden. Es will nicht nur Touristen, sondern auch die Amischen selbst über die Vergangenheit der Amischen aufklären. Das Zentrum und dessen Direktor Tim Lichti haben es sich zur Aufgabe gemacht, durch die Rückbesinnung auf die geistlichen Wurzeln der Bewegung das Fortleben zu sichern. Wenn jedoch die geistlichen Wurzeln Familie und Tradition als Existenzgrundlage ersetzen würden, gäbe es die Amischen im bisherigen Sinne nicht mehr. Dann wären die Touristen und Volkskundler um eine Attraktion ärmer. Aber vielleicht sind die Zaungäste nicht das Maß aller Dinge.
Bill Yoder
Evanston bei Chicago, den 2.1.91
Verfaßt für den Evangelischen Pressedienst in Frankfurt/M., 1.040 Wörter
Anmerkung von Dez. 2020: In diesem Beitrag ist die Gesamtzahl der Amischen sehr niedrig ausgefallen. Im Mai 2020 schrieb ich, daß deren Zahl in den USA jetzt bei 330.000 liegt. "Bei sechs bis neun Kindern pro Familie und einer Ausstiegsrate von nur 20%, verdoppelt sich deren Zahl alle 21-22 Jahre."
Übrigens: In Deutschland spricht man den Namen dieser Glaubensgemeinschaft meistens falsch aus. Sie sprechen von "ÄÄÄÄmisch" oder "ÄÄÄÄmisch-People". In USA wird
deren Namen jedoch korrekt ausgesprochen: "Ahhhhmisch".