An der vergammelten Empfangstheke im Wohnblock der "Jesus People USA" stoße ich auf einen hinter Haarwuchs versteckten Telefonisten. Gerade fährt er einen aus Kalifornien zugereisten Hilfesuchenden an: "Bruder, wenn du Christ bist, mußt du dir schleunigst eine Gruppe aussuchen, mit der du Gemeinschaft pflegen kannst. Sonst kommst du gegen den Teufel überhaupt nicht an!" Ein wenig kraß für den sensiblen Geschmack, denke ich mir, aber allemal verständlich.
In einer von Müll und Schlaglöchern übersäten Hintergasse erkenne ich das Gotteshaus der Jesus-People nicht. Zum Glück erspähe ich eine dicke Bibel unter dem Arm eines dahineilenden Wuschelkopfes. Auf dieser Spur bleibe ich und gelange somit in ihren neu hergerichteten Gemeindesaal. Hinweisschilder gibt es nicht.
Erwartungsgemäß geht es bei diesen Überbleibseln der siebziger Jahre ausgesprochen locker zu: Noch kurz vor Beginn werden die Müllsäcke hinausgetragen, auch mitten in der Predigt reicht man sich Getränke. Dem Nachbar soll ich nicht nur die Hand geben, man hat außerdem den Klappstuhl umzudrehen und Gebetszirkel zu bilden. Das Klatschen ersetzt die anderwärtig geläufigen Hallelujah-Rufe. Hier wird Gott mit anbetungsmäßiger Intention regelrecht beklatscht. Nach Angabe des Predigttextes ist das Rascheln der Seiten hunderter Bibeln zu hören.
Sogar das Profitmotiv hat im Gottesdienst seinen Stammplatz: Unmittelbar vor dem Abschluß wird regelmäßig auf die Öffnungszeiten eines gemeindeeigenen Ladens hingewiesen. Dankbarerweise wird eine Entschuldigung mitgeliefert: Besser, Gottes Sache streiche den Gewinn ein als "irgendein fetter Bursche im Bungalow".
Viele der Eigenarten aus vergangenen Jahrzehnten sind erhalten: u.a. der überragende Stellenwert der Frisur und die Betonung der Nonkonformisten-Uniform. Eine Schwäche für die wilde Tonkunst dauert an. Aber der Rock-und-Roll verschaukelt den Glauben nicht: Man hält ihn überhaupt für die geeignetste Form der Evangelisation unter Jugendlichen. Das Leben dieser Jesus-People ist faktisch entbehrungsreich, dennoch besteht offenkundig eine Sonderdispensation fürs Musikalische: von drei Stereoanlagen in einer von drei Ledigen bewohnten Stube wird berichtet.
Es versteht sich von selbst, daß etablierte Evangelikale sich nur am Inhalt, nicht an der Form, der dargebotenen Musik erfreuen könnten. Ähnliches gilt für Hollywood: In einem gemeindeeigenen Kino werden Filme gezeigt, die sich Pietisten üblichen Zuschnitts nur schief anschauen würden.
Eine dichtbevölkerte Kommunität
Die 300 erwachsenen Mitglieder der "JPUSA" Leben auf engstem Raum als Kommunität zusammen. Nur Ehepaaren wird ein eigenes Zimmer gestattet; Kinder werden zu dritt geschlechtsgetrennt in anderen Zimmern untergebracht. Nach Neil Taylor, einem der neun Ältesten der Gemeinde, werde mit Bedacht drei oder vier Ledigen in eine Stube, die in der zivilen Welt von einer Person bewohnt sein würde, hineingepfercht. "Da kann man sich nur eine bestimmte Menge an schönen Dingen leisten, wenn man in einem Zimmer von 3x5 Metern mit anderen zusammen wohnt," versichert er. "Ich hoffe und bete, daß wir bei dieser Praxis bleiben, denn sie hat uns schon sehr geholfen."
Praktisch ohne Bares fristet das Kommunitätsmitglied sein Dasein: Wer Wintersocken braucht oder ins Restaurant will, geht zu seinem "Familienvater" und läßt den Wunsch auf eine Warteliste setzen. Wer Sparanlagen hat, darf sich derer während seines dortigen Aufenthaltes nicht bedienen.
Wer sich mehr vor dem Alleinsein als vor Ungeziefer ekelt, ist hier an der richtigen Stelle. Der Ausgang zur zweit wird stärkstens empfohlen; das Palavern -- auch "Rumhängen" genannt -- eine Lieblingsbeschäftigung. Wie Otto Dibelius sind diese Christen immer im Dienst: Manche Ältesten lassen abends ihre Zimmertür als Bekenntnis immer eine Spaltenbreite offen. Wer von Drogen und ähnlichen Lastern befreit werden will, erlebt hier eine Menge Unterstützung, und das rund um die Uhr.
Ob deutscher Alternativ-Tourist oder Alkoholiker, es werden alle Obdachlosen aufgenommen oder weitervermittelt. Es wird keiner ohne triftigen Grund abgewiesen. Das hält die Kommunität für eine besonders christliche Praxis: Sie ist es wohl auch. Da man für einen Tag oder auch ein Jahr bleiben kann, ist die JPUSA für deutsche Dauertouristen, die das Gesäß der US-Gesellschaft inspizieren wollen, treffend geeignet. Allerdings gibt Taylor an, daß es die Deutschen mit dem Eingewöhnen schwer haben: meistens dauert es 14 Tage, bis sie sich an die Kakerlaken und Läuse gewöhnt haben. "Das geht auch nicht anders, wenn man mit Straßenmenschen zu tun hat," fügt der Anwaltssohn hinzu. Da vertritt die deutsche Krankenschwester Debora Witzner eine andere Auffassung: Sie hält die hygienischen Praktiken der Kommunität für kein Naturereignis und setzt vielmehr auf eine künftige Reformation.
An allen Ecken und Kanten ist zu erkennen, daß die Größe der Herzen das Organisationstalent übersteigt. Glücklicherweise sind die Anhänger dieser sozialistischen Gesellschaft Meister des Improvisierens und der Flexibilität. Im August 1990 wurde ein Hotel mit 365 Zimmern gekauft. Da jedoch noch 90 Senioren in dem Mammutbau hausten, wurden auch sie gleich mit übernommen. Somit kam zur Drogen-, Obdachlosen-, Suppenküche- und Konzertarbeit noch eine Seniorenarbeit hinzu. Die Mitarbeitern Pearl Hoover stöhnt: "Sobald wir meinen, mit der gegenwärtigen Arbeitslast zu Rande zu kommen, werden neue Projekte in Angriff genommen." Im Jahre 1990 sind ein Obdachlosenheim für Mütter mit Kindern, ein Wohnblock für einkommensschwache Mieter, das Hotel sowie ein Landgut mit 200 Hektarn -- sie ist für Rockfestivals und Erholung vorgesehen -- angeschafft bzw. gegründet worden.
Diese Projekte wurden nicht am grünen Tisch, sondern aus den Nöten derer, die vor der Tür lauerten, geboren. Anfangs tafelten Obdachlose am Eßtisch mit und wurden in die Betten verreister Kommunitätsangehöriger gesteckt. Erst nachdem das logistisch nicht mehr ging, wurde eine Suppenküche eingerichtet und deren Boden als Schlaf- und Gemeindesaal eingesetzt. Nun sollen alle 450 Angehörigen der Kommunität in das neuerworbene Hotel einziehen.
Die JPUSA besteht aus überzeugten Nichtakademikern: Nur einer von neun Ältesten verfügt über einen Hochschulabschluß. Er erhielt ihn auch nur weil die Gemeinschaft einen Anwalt benötigte und er zum Studium abkommandiert wurde. Etwa ein Dutzend (4%) der erwachsenen Mitglieder der Kommunität sind Akademiker. Auf vordergründige Hilfsmaßnahmen haben sie sich spezialisiert; das Entwickeln von Hilfskonzepten überlassen sie den "Eierköpfen" [Amerikanisch für Intellektuelle/Gelehrte].
Ein Comic-Heft für Halb- und Ganzstarke
Die Zeitschrift "Cornerstone" (Grundstein) greift Themen aus dem Alltag von Jugendlichen der untersten Gesellschaftsschichten auf. Ein Aufsatz befaßt sich mit einer achtjährigen Nachbarin, die in die Fänge einer Porno-Mafia geriet und seitdem verschollen ist. Ihr hat die hauseigene Rez-Band (vom Wort "Resurrection" abgeleitet) eine Langspielplatte gewidmet. Über die Versuchungen des Fleisches hält man nicht hinter dem Berg: Wer sich das Porno-Laster vom Halse schaffen will, kann es aus einer Comic-Serie der "Cornerstone" erfahren: sich einem Vorgesetzten anvertrauen, fragliche Läden meiden, passende Bibelstellen auswendig lernen.
Man wird nicht schwul geboren, konstatiert eine Ausgabe von "Cornerstone". Auf Grund zunehmender sexueller Freizügigkeit warnt sie vor dem Besuch kirchlicher Hochschulen. In durchaus mutiger Weise wirbt eine Video für die sexuelle Abstinenz schwarzer Jugendlicher. Das braucht jedoch keiner auf einen verdeckten Rassismus zurückführen: Die JPUSA ist erheblich schwärzer als die allermeisten von Weißen geführten Gemeinden. Rund 20% der Gottesdienstbesucher sind Afro-Amerikaner.
Eine Nummer bringt einen Bericht aus Namibia. Die fundamentalistische "Bob Jones University" im Bundesstaat Südkarolina wird wegen rassistischer Praktiken angeprangert. Gegen Apartheid und Abtreibung wird Front gemacht: "Adoption, nicht Abtreibung" heißt die Devise. Das wird so weit getrieben, daß die JPUSA verschiedentlich für republikanische Kandidaten Wahlkampagne gemacht hat.
In der Ehe behält der Mann das letzte Wort, wird versichert. Bezüglich der biblischen Unfehlbarkeit argumentiert Taylor jedoch pragmatisch: "Wer in der Mission Erfolg erlebte, vertrat die biblische Unfehlbarkeit." Mit der Summe dieser Äußerungen plaziert sich die JPUSA auf eine wundervolle Weise zwischen allen ideologischen und kulturellen Stühlen. Die "Junge Kirche" und alle ähnlichen Blätter mögen für die Geschundenen werben, sie werden jedoch nur von Hochschulabsolventen gelesen. Dieses halbe Comic-Heft kann jeder Straßenjunge entziffern.
Der liegengebliebene Bus
In den frommen Kreisen der Welt sind die Chicagoer Jesus-People kein unbeschriebenes Blatt. Die Zeitschrift erscheint in einer Auflage von 100.000; sie wird u.a. auf den Solomonischen Inseln und von Touristen vor dem großen chinesischen Schutzwall gelesen. Die Rez-Band hat kürzlich eine Polen-Tournee absolviert; im vergangenen April trat sie auf dem Berliner Alexanderplatz auf.
In Milwaukee ist dieses Unterfangen gestartet: 1971 begannen sieben junge Christen in einer Wohngemeinschaft zusammenzuleben; innerhalb eines Jahres wuchs ihre Zahl auf 200. Ein Teil von ihnen begab sich als Musik- und Evangelisationstruppe auf Dauertournee; nach wenigen Monaten erlosch in Chicago der Lebenswille ihres schwergeprüften Reisebusses. Ein Ortspastor stellte Ihnen eine leerstehende Kirche als vorübergende Heimat zur Verfügung und somit entstand die heute größte und erfolgreichste Niederlassung nordamerikanischer Jesus-People. Wenige Jahre danach wurde die Erbschaft eines Mitgliedes angezapt und ein Wohnblock im Stadtteil Uptown erworben.
Der Anschluß an die "Evangelical Covenant Church" im Juni 1989 -- sie ist mit dem Bund freier evangelischer Gemeinden Deutschlands verwandt -- deuten beide Parteien als Ausdruck eines notwendigen Reifungsprozesses. Mit großer Genugtuung hören die Standhaften der Covenant Church die Zusicherung Neil Taylors zu: "Wir verkünden keine neuen Wahrheiten." Allerdings räumt auch er ein, daß seine Gemeinschaft nur über den Anschluß zu Darlehen gekommen sei, die die Immobilienkäufe der vergangenen Jahre ermöglicht haben.
Dr. Paul Larsen, Präsident der Covenant Church, sieht in dem Anschluß eine verheißungsvolle gegenseitige Bereicherung: Seine Kirche garantiert die theologische Orthodoxie, die JPUSA sorgt für eine geistliche Neubelebung. "Sie bedrängen uns mit den Nöten der Armen und Verwahrlosten, wir konfrontieren ihnen mit dem historischen christlichen Glauben," versichert er.
Noch 20 Jahre mehr?
Führungskrach scheint für die Kommunität vorprogrammiert: Alle neun Ältesten sind Kämpfer der ersten Stunde. Vom eigenen unmittelbaren Nachwuchs ist neues Blut kaum zu erwarten: Nach Arno Hieß, einem vorübergehenden Gast aus Hofheim am Taunus, hapert es mit der Wertevermittlung. Da die Kinder die Nöte ihrer Eltern niemals zu verspüren hatten, teilen sie die Ideale der Eltern auch nicht. Vom Leben der Kommunität wenden sie sich ab, sind jedoch für das Leben unter Normalsterblichen untauglich. Wer sein ganzes Leben in den kommunitätseigenen Schulen und Betrieben verbracht hat -- eine Anstellung außerhalb der eigenen Firmen wird nicht gestattet -- ist für das amerikanische Alltagsleben nicht gerüstet.
Jeder Neuankömmling fängt mit Abspülen und Reinemachen an. Für yuppie-angehauchte Persönlichkeiten, die einem vernünftigen Beruf nachgehen wollen, bleibt da kein Platz.
Die Arbeitsmoral ist ungleichmäßig verteilt: Während sind manche bis zur Erschöpfung verausgaben, spezialiseren sich andere auf Nebenjobs, da nur so die begehrten Konsumwaren zu ergattern seien. Gehen diese Nebenjobs zu Lasten der eigentlichen, unbesoldeten Arbeit? "Ja," versichert Hieß schlicht. Sogar zur Kirchzeit zimmern noch einzelne an der eigenen Wohnstube.
Taylor, der Anwaltssohn aus Florida, gibt an, daß zahlreiche Jesus-People der Anfangsjahre vom Glauben abgefallen seien, oder in traditionellen Gemeinden Unterschlupf gefunden hätten. Andere sind bei der "Name-it-and-claim-it"-Theologie jener Charismatiker gelandet, die den hemmungslosen Konsum als Beleg göttlichen Wohlgefallens werten. In Chicago hingegen halten 300 Erwachsene das Erbe nahezu in Reinkultur lebendig -- und das, obgleich sie die schwere Last einer Kommunität als Unikum mit sich tragen. Die Hälfte von ihnen ist bereits mehr als einem Jahrzehnt dabei. Angebot und Nachfrage bestehen weiterhin; diese Jesus-People werden auch künftig von sich hören lassen.
Bill Yoder
Evanston, den 20. Dez. 1990
Verfaßt für das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“ in Hamburg, 1.750 Wörter
Anmerkung von April 2022: Diese Chicago-Gemeinschaft der JPUSA wurde 2014 in einen Rechtsstreit verwickelt, in dem ehemalige Mitglieder der Kommunität sexuellen Mißbrauch vorwarfen. In diesem Zusammenhang wurde Neil Taylor, der 2004 von der "Evangelical Covenant Church" ordiniert worden war, 2017 als Pastor suspendiert. Einige Anklagen, die die Gemeinde betrafen, wurden abgewiesen. Im Jahre 2022 versucht Taylor nun mit rechtlichen Mitteln seine Wiedereinstellung als Pastor zu erzwingen.