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Ein frühzeitiger Gang durch die Archive

Über ein Buch von Robert Goeckel

 

Goeckel, Robert F., The Lutheran Church and the East German State, Cornell University Press, Ithaca u. London, 1990

 

Dem deutschkundigen Leser wäre die Lektüre dieser Arbeit natürlich weniger erschwerlich, wenn sie auf Deutsch verfaßt worden wäre.  Manche Begriffe und Sätze gewinnen für den DDR-Kenner erst dann den vertrauten Sinn, wenn Sie ins Deutsche rückübersetzt werden. Ohne Angabe der ursprünglichen deutschen Formulierung wird z.B. "Wächteramt" mit "Guardian Office" übersetzt.  In deutscher Sprache verfaßt erfreute sich dieses Werk gewiß einer größeren Leserschaft, denn wer sich die Mühe macht, dieses Buch zu durchdringen, wird mit nur wenigen Ausnahmen ohnehin der deutschen Sprache mächtig sein.

 

Immerhin genügt dieses Buch den Ansprüchen deutscher Geisteswissenschaft.  Seine strenge und akribische Ausdrucksweise lassen keine größeren Angriffsflächen aufkommen.  Wer das Buch in Zweifel ziehen will, muß sich folglich auf Detailfragen konzentrieren.

 

Auffallend sind die etwas ungewöhnlichen Quellen:  Die zahlreichen englischsprachigen Angaben -- u.a. der Informationsdienst von Radio Freies Europa -- geben einen Überblick über das, was im angegebenen Zeitraum in englischer Sprache zum Thema DDR-Kirche erschienen ist.  Ungewöhnlich ist ebenfalls die Tatsache, daß der US-amerikanische Verfasser Zugang zum Ostberliner Archiv der CDU hatte zu einer Zeit, in der westdeutschen Wissenschaftlern ein solcher Gang versperrt war.  Deshalb ist eine Tabelle auf S. 179 über die Wahlbeteiligung evangelischer Pfarrer im Zeitraum 1964-73, die der Verfasser an Hand des CDU-Archivs erstellt hat, einmalig.  Diese Tabelle zeigt übrigens eine besonders hohe Beteiligung in Mecklenburg und Thüringen, eine besonders niedrige in Sachsen und Berlin.

 

Als Stipendiat und Nutznießer neuer DDR-USA Abkommen verbrachte Robert Goeckel 1979 einige Monate in der DDR.  Rund 70 Interviews mit DDR-Bürgern und -Interessierten, einschließlich 12 Bischöfen, zeugen von beachtlichem Fleiß.  Da aus diesen Interviews kaum zitiert wird, ergibt sich aus ihnen jedoch wenig unmittelbaren Gewinn für den Leser.

 

Dieses Buch ist das Ergebnis einer Dissertation, die der Verfasser 1982 auf der renommierten Harvard-University einreichte.  Es befaßt sich primär mit dem Zeitraum 1968-74, Kapital 8 wurde zur Aktualisierung der Dissertation angefügt und behandelt den Zeitraum 1978-89.  Die Periode zwischen der Bildung des Bundes 1969 und dessen zögerliche Anerkennung durch die Staatsmacht zwei Jahre danach nehmen einen breiten Raum ein.  Die Auseinandersetzung um Art. 4.4. der Bundesverfassung, die von einer "besonderen Gemeinschaft" aller deutschen Landeskirchen spricht, wird eingehend behandelt.  Im Nachhinein ist hieraus die übersteigerte Angst der Staatsmacht zu erkennen:  Bis zur Maueröffnung hatten sich ja die ost- und westdeutschen Kirchen in einem Maße entfremdet, der auch die rabiatesten Spaltergeister der SED hätte erfreuen müssen.

 

Die Verwendung des Terminus "Lutheran" u.a. im Titel für die acht Landeskirchen des Bundes ist irritierend, soll dennoch keineswegs bedeuten, daß sich der Verfasser über die Verschiedenartigkeit lutherischer und uniierter Landeskirchen nicht im klaren gewesen wäre.  Seine Beschreibung der politischen Auswirkungen ihrer theologischen Differenzen, bezogen u.a. auf die Person des Bischofs Mitzenheim, bildet sogar eine besondere Stärke dieser Arbeit.

 

Goeckel räumt ein, sein politologisches Werk erhebe keinen Anspruch auf theoretische Neuerkenntnisse.  Seine abschließenden Schlußfolgerungen, sie besagen u.a. nur, daß die Veränderungen im sozialistischen Lager die Innenpolitik der jeweiligen Staaten mitbestimmten, bestätigen diese Einschätzung.

 

Resümierend muß jedoch festgestellt werden, daß dieses Buch dem DDR-interessierten Wissenschaftlicher einen nutzvollen Einblick in die zeitgeschichtliche Periode verschafft, in der sich die ostdeutschen Kirchen unter staatlichem Druck zum Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR konstituierten.

 

Bill Yoder

Berlin, den 16.11.90

 

Verfaßt für die evangelische Berliner Zeitschrift „Übergänge“, 515 Wörter.