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Das Friedensheim: eine einmalige Berliner Gemeinde

Seit Jahrzehnten verbreiten deutsche Medien vielerlei Schnickschnack über einen „exotischen“ Zweig des nordamerikanischen Mennonitentums, der mit Pferden den Acker pflügt und in mittelalterlicher Bauerntracht seinen Gottesdiensten entgegenkutschert. Diese "Amischen" haben ausgerechnet in Berlin-Lankwitz manche Glaubensvetter, nämlich in einer von den "Beachy-Amischen" gegründeten Gemeinde. Die Beachy-Amischen stehen dem 20. Jahrhundert etwas näher - sie genießen beispielsweise die Vorzüge des elektrischen Stroms. Ihre Tracht und Lebensweise unterscheiden sich dennoch nur unwesentlich von jenen der Amischen. Das ist nur allzu verständlich, denn viele Beachy-Arnische - auch "Amisch-Mennoniten" genannt - sind einstige Amische, die halt den Reizen des Umhertuckems im motorisierten Untersatz nicht widerstehen konnten.

 

Damit Sie im Bilde bleiben: Die amische Kirche entstand in der Schweiz 1693 durch eine Abspaltung von den „liberaleren“ Mennoniten. Ihr Gründer und Namenspater hieß Jakob Amman. Daraufhin erfolgte eine Auswanderung en masse nach Amerika. Ab 1927 begannen sich Amisch-Mennoniten von den amischen Gemeinden abzuspalten. Der Name Beachy - "Bitschi“ auf Schweizerisch - bezieht sich ebenfalls auf ihren Gründer. (Ich persönlich behaupte, ein wenig vom Fach zu verstehen: Bis zum fünften Lebensjahr verbrachte ich widerwillig unzählige Stunden auf den unbarmherzigen, rückenlehnlosen Klappbänken in amischen Gottesdiensten.)

 

Ein missionarischer Aufbruch nach dem II. Weltkrieg bereitete der sippenhaften Nabelschau  amisch-mennonitischer Gemeinden ein jähes Ende. Manche verhärtete Tradition wurde aufgebrochen; erstmals gewann diese nur 4.000 Seelen zählende Kirche einen Blick für die Innen- und Außenmission. Eine Missionsgesellschaft genannt „Amish Mennonite Aid" wurde gegründet; ihr erstes ausländisches Vorhaben brachte sie ausgerechnet nach Berlin. Im Jahre 1958 wurde in Lankwitz ein Haus gebaut; die Arbeit nannte sich "Friedensheim" und befleißigte sich bis zum Mauerbau der Betreuung von Flüchtlingen und Kindern. In

den ersten anderthalb Jahrzehnten wurde das Friedensheim in der Regel von zwei Ehepaaren und vier ledigen Freiwilligen aus USA betreut. Daraus entstand nach und nach eine neue Ortsgemeinde amisch-mennonitischer Prägung.

 

Mitte der Sechziger Jahre wurde mit Straßenversammlungen im Bereich des Kurfürstendamms begonnen. Dort sowie in manchen Drogenhöllen stießen Mitarbeiter auf Jugendliche, die tiefgreifende und langfristige Lebenshilfe benötigten. Daraus entstand 1971 im südlichen Lichterfelde ein Rehabilitationszentrum für Drogen- und Alkoholgeschädigte. Bis heute haben rund 100 junge Männer einige Zeit im "Friedenshafen" verbracht; etwa zehn von ihnen haben sich zum Glauben bekehrt und sind gegenwärtig im Friedensheim oder in anderen Gemeinden aktiv. Allerdings soll nun in nächster Zeit die Arbeit des Friedenshafens vorläufig eingestellt werden. Vor fünf Jahren kam das Weddinger "Friedensnest“ hinzu; es widmet sich vor allem der Betreuung türkischer Kinder.

 

Im Jahre 1975 ereignete sich ein Eklat: Nach längerem Zögern entsprach die besagte "Amish Mennonite Aid" dem Wunsch des Friedensheims nach Verselbständigung. Die Missionsbehörde verfügte ja über äußerst wenig Erfahrung mit ausländischen Tochtergemeinden - die Entscheidungsträger waren zumeist fachfremde Landwirte - und gingen darum davon aus, die ihnen „liebgewonnenen Traditionen“ hätten unmodifiziert von den Europäern übernommen zu werden. Ein Disput entbrannte an den Fragen von der Trachtenpflicht und dem Gebrauch von Instrumenten im Gottesdienst; da fehlte beim Gros der deutschen Gemeindeglieder die Einsicht.

 

Zu den verdächtig im Gottesdienst Zupfenden zählte auch Lewis (Ludwig ) Overholt, der „Patriarch" des Friedensheims. Kurz vor dem Mauerbau war das jungvermählte Ehepaar Overholt nach Berlin gekommen; 1963 wurde er zum ersten Auslandspastor der amisch-mennonitischen Kirche ordiniert.

 

Pastor Overholt, der nur über einen Volksschulabschluß verfügt, versteht es besonders gut, mit den Schwachen und Verzweifelten dieser Erde umzugehen. Als ich kürzlich bei ihm zum  Frühstück erschien, saß schon ein "Berber" zu Tisch . Es stellte sich heraus, er kenne Ludwig bereits seit Jahrzehnten; er weiß eben wo ein stets aufmerksames Ohr zu finden ist . Dieser sportlich gebaute Prediger fungiert gleichzeitig ebenfalls als Klempner, Fliesenleger,  Chauffeur und Möbelspediteur. Überhaupt sind nahezu alle Vollamtlichen des Friedensheims Nichttheologen; die einzige Ausnahme bildet der Jugendpastor Sebastian Heim. Man hat nichts gegen eine entsprechende Ausbildung, die innere Einstellung wird eben für entscheidender gehalten.

 

Wegen der hohen Wahrscheinlichkeit unvorhergesehener Überraschungen läßt sich der Verlauf Friedensheimer Gottesdienste in keinem Programmheft abdrucken. In diesem Sommer gingen mitten im Gottesdienst Stuhl und Tür zu Bruch sich als sich ein alkoholisierter Ehemann in die Versammlung stürzte. Einige Wochen zuvor hatte seine selbstmordgefährdete Frau Schutz und Unterschlupf im Hause der Familie Overholt gefunden; nun wollte er es dem Pastor heimzahlen.

 

Mitunter muß einem Störenfried Einhalt geboten werden: Seit über ein Jahrzehnt macht ein ehemaliger Zeuge Jehovas Radau bei den sonnabendlichen Straßenversammlungen. Wenn er mal in den Gottesdienst gelangt und das Zwischenrufen nicht lassen kann, muß er eben von kräftigen Burschen an die Luft gesetzt werden. Übrigens: Bei Straßenversammlungen in den Anfangsjahren brachte man die Passanten schleunigst auf die Palme mit Plakataufschriften wie: "Du mußt sterben!“ Am Zoo-Palast heutzutage wirkt man wesentlich gelassener und einladender.

 

In den Gottesdiensten geht es ausgesprochen schulmäßig zu. Das Friedensheim besitzt wohl die einzige Kanzel Berlins, von der ein eingebauter Projektionsapparat prangt. Im Laufe mancher Predigten wird er eingeschaltet; die Tüchtigsten schreiben dann alles von der Leinwand ab. Aus pädagogischen Überlegungen stellt Overholt allerlei Fragen an die Versammelten; dadurch bekommen Menschen jung im Glauben Gelegenheit, mit ihren neugewonnenen Bibelkenntnissen zu hantieren.

 

Im Gottesdienst kann sieh jeder einbringen und sei es durch eine mitten in der Predigt entflammte Diskussion. Nahezu jeder Gottesdienst enthält eine Predigt; ihr Zeitpunkt läßt sich im voraus allerdings nicht genau festschreiben. Kinder gehören zum Bild des Gottesdienstes; meistens sitzen sie samt Puppen in der allerersten Stuhlreihe.

 

Die Frage nach der konfessionellen Bindung dieser einst mennonitischen Gemeinde ist seit 1975 ungeklärt; in den nächsten Jahren sollen die Glieder entscheiden, "welcher Prägung wir sind“. Im Augenblick sind drei Stufen der Zugehörigkeit möglich: Vollamtliche Mitarbeiter, etwa acht an der Zahl, geben sämtliche Einkünfte an die Gemeindekasse weiter und beziehen dafür ein monatliches Taschengeld. Außerdem besteht ein Kreis von rund 50 fest eingetragenen Mitgliedem sowie ein Freundeskreis von 30-40 Personen. Tagtäglich anfallende Entscheidungen werden vom siebenköpfigen Gemeinderat getroffen. Dem dreiköpfigen Ältestenrat können allerdings nur Männer angehören. Die Gemeinde versucht nichtsdestoweniger die Talente der Einzelnen festzustellen und ihnen angemessene Aufgaben aufzutragen. Gemeindearbeit soll von allen Gliedern mitgetragen werden.

 

Seit dem Selbständigwerden der Gemeinde ist sie zum geringen Teil auf die handwerklichen Gelegenheitsarbeiten ihrer festangestellten Mitarbeiter - siehe Overholt - angewiesen; die Gemeinde empfiehlt ihren Mitgliedern die Zahlung des Zehnten. Das Jahresbudget beläuft sich auf rund 200.000 DM.

 

Theologisch fühlt sich das Friedensheim mit der Evangelischen Allianz eng verbunden; Overholt ist auch beratendes Mitglied ihres Berliner Vorstands. Der Pastor betont die Wichtigkeit des "kindlichen Glaubens an Gott"; dessen Erörterung im Gottesdienst "kolossal dazu beigetragen hat, daß unsere Gottesdienste lebendig wurden“. Erfahrungen mit Drogensüchtigen und anderen, die "hautnah an der Krise vorbeileben", habe der gesamten Gemeinde vor Augen geführt, "was die volle Abhängigkeit von Christus und einander eigentlich bedeutet“.

 

Gegenüber den Volkskirchen bemängelt Overholt, daß "der lebendige Fluß" zwischen Gemeinde und Leitung meistens fehlt. Da nahezu aller Besuchsdienst den Vollamtlichen überlassen wird, kann der notwendige Dienst am Einzelnen nicht annähernd befriedigt werden. Es kommt hinzu, daß sich Pfarrerschaft und Laie zu oft "auf verschiedenen sozialen Ebenen befinden".

 

Der ordinierte Laienpastor aus Virginia hält die Tage der Kirche in ihrer bisherigen Gestalt für gezählt.  Als Optimum stellt er sich durch ganz Berlin zerstreute Gemeindezellen in Wohnungen und Ladenkirchen vor. Eine Gemeinde müsse ja überschaulich bleiben, um "das verbindliche Zusammenleben zu ermöglichen". Nur wenn die Nöte der Fragenden tatsächlich aufgefangen werden können, werde die Kirche auch überleben.

 

Mancher Berliner Christ liebäugelt mit den "Basisgemeinden" Lateinamerikas. Ich meine, es gäbe schon - etwa im Friedensheim - ein hiesiges Pendant. Gewiß, die fundamentalistische Theologie - und einfältige Gesellschaftspolitik - eines Friedensheims. möge die Ohren der Geschulten schmerzen, dennoch wäre die Lage in entfernt-exotischen Basisgemeinden wohl kaum anders. Ist denn für Menschen "an der Basis“ eine andere Theologie überhaupt tragbar?

 

Bill Yoder

Berlin, den 16. November 1983

 

Erschienen im „Berliner Sonntagsblatt“ am 18.12.1983, 1.243 Wörter.

 

Anmerkung von August 2022: Das „Friedensheim“ existiert weiterhin als eine Filiale der „Mennonistischen Brüdergemeinden“, einer Kirche ukrainisch-russischen Ursprungs. Das Ehepaar Overholt kehrte 1987 in die USA zurück. Dort engagierte es sich jahrelang in den Basisgemeinden der „Koinonea Farms“ und der „Habitat for Humanity“ im Bundesstaat Georgia. (Ein Gründungsvater dieser Bewegung war Clarence Jordan, 1912 bis 1969). Heute lebt das Paar in einem mennonitischen Altenheim in Harrisonburg/Virginia.