Ein leidenschaftlicher Austausch in Berlin-West, Dezember 1982
Im Anschluß an einem ökumenischen Gottesdienst der evangelischen und katholischen Studentengemeinden fand in der Dahlemer Jesus-Christus-Kirche am 12. Dezember 1982 eine leidenschaftliche Diskussion über die sieben Thesen des Moderamens des Reformierten Bundes vom 12. Juni 1982 statt. Der Mainzer Propst Helmut Kern, ein Mitverfasser dieser Erklärung, beklagte in seinem Einleitungsbeitrag den Mangel an "nicht aufschiebbaren Konsequenzen" in der im November 1981 erschienenen Erklärung der EKD. Die "problematische Ausgewogenheit" der EKD-Erklärung rede nicht "mit dem heißen Atem" der vorangegangenen holländischen Erklärung; sie "referiert nur, statt zu reagieren". Darum mußte nach dem holländischen Schreiben "ein noch viel deutlicheres Wort" gesagt werden. Die EKD soll erkennen, daß ihre Haltung "nicht automatisch die Haltung alle ihrer Glieder" sei.
Es wird häufig kritisiert, daß die reformierte Erklärung nicht zuerst zur Diskussion in den Gemeinden freigegeben wurde. Diese Kritik hält Propst Kern für gerechtfertigt, allerdings "war man bestrebt, den "appellativen, einladenden Charakter" dieser Schrift beizubehalten . Durch dieses Schreiben wurden viele Kirchenleitungen zu konkreten Stellungnahmen herausgefordert, dies allein rechtfertige schon den Schritt. Die Anfrage des Reformierten Bundes lautet: "Wie lange kann die Kirche noch in der Schwebe bleiben? Wie lange noch lähmen wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten und damit gekoppelte Feindbilder die notwendige konkrete Stellungnahme zu einem System, das glaubt, mit Werkzeugen des Massenmordes dem Leben dienen zu können?"
Der Status Confessionis
Die Reformierte Erklärung erhebt die Frage nach den Massenvernichtungsmitteln zum status confessionis. Dennoch, versicherte Kern, wolle man andersdenkenden Christen ihren Glauben nicht absprechen. Es wurde die Frage aufgeworfen, wieso wehre sich die Kirche so vehement gegen das Aufrufen eines neuen status confessionis? Nach Professor Helmut Gollwitzer hatte Bischof Hanns Lilje schon 1948 hinsichtlich des Religionsunterrichts in der DDR diesen Begriff verwendet. Im Jahre 1977 hatte der Lutherische Weltbund (LWI) die Apartheid zur Bekenntnisfrage ausgerufen.
Professor Günter Warnecke, Sprecher der Berliner Erklärung von 49 EKD-Synodalen, vertrat die Ansicht, weltliche Organe hätten sich schon "viel dezidierter" zur Frage der Massenvernichtung geäußert. Schon 1907 verurteilte die Haager Landkriegsordnung die Verwendung von Giftmitteln; die Regeln des allgemeinen Völkerrechts, die ja Bestandteil unseres Grundgesetzes seien, sprechen sich für eine Ächtung aller Massenvernichtungsmittel aus. Die Berliner Synode der EKU von 1957 bekundete, daß die Massenvernichtungsmittel das verraten, was es zu retten gilt. Heute versuche die Kirche aber hinter allen diesen Erklärungen "zurückzubleiben".
Volkmar Deile von der Aktion Sühnezeichen merkte an, es habe in den bundesrepublikanischen Kirchen keinen Widerspruch gefunden, nachdem der Lutherische Weltbund den status confessionis über Südafrika ausgerufen hatte . "Erst aber wenn es einem selber auf den Leib rückt und die Kirchen bei uns anfangen, dann vergißt man wieder das, was man schon mal gelernt hat," sagte er.
Die reformierte Berliner Pfarrerin Horsta Krum meinte, die Massenvernichtungsmittel seien die Bonhoeffersche Judenfrage von heute. Wie auch in den 50er Jahren wird den Nuklearaktivisten vorgeworfen, sie würden die kirchliche Einheit bedrohen. Darauf entgegnete sie: "Das Evangelium ist für mich kein Schirm unter dem man zusammenbleibt, sondern das Evangelium ist nach den Aussagen des Neuen Testaments ein Skandalon, ein Ärgernis.“
In Anlehnung an den Marburger Professor Wolfgang Huber sagte Deile: Durch den vom Reformierten Moderamen ausgerufenen status confessionis seien wir in einen "processus confessionis hineingekommen. Wir müssen als ganze Kirche das Bekennen lernen. Sinn des status confessionis ist nicht die Spaltung, sondern die ganze kirchliche Organisation jetzt in den notwendigen Lernprozeß hineinzubringen."
Nach Professor Helmut Gollwitzer stimmen alle kirchlichen Gremien darin überein, daß der Einsatz von Atomwaffen Sünde sei, es seien nur vereinzelte Kirchenglieder - etwa Generäle - die einen beschränkten Einsatz von Kernwaffen zu rechtfertigen versuchen. Viele stehen aber heute noch zur abschreckenden, vermutlich friedensbewahrenden Wirkung der Massenvernichtungsmittel. Es handelt sich bei ihnen folglich um kein "Nein ohne jedes Ja" (ein Nein zur Herstellung, Test und Produktion).
Die anstehenden praktischen Aufgaben
Pfarrerin Krum freut sich über die lebhafte, fällige Berliner Diskussion, da man jetzt nicht mehr "um sie vorbeikomme". Nach Gollwitzer ist schon "enorm viel" geleistet worden; man hofft nun 1983 eine kirchliche Mehrheit für das "Nein ohne jedes Ja" zu finden. Deile meinte, "das erste Steinchen aus dem großen Mosaik" der institutionellen Kirche - das Reformierte Moderamen - sei herausgebrochen worden, man könne nun auf Unruhe gefaßt sein: "Solange oben nichts anbricht, gibt es an der Basis die notwendige Unruhe nicht."
Gollwitzer trat dafür ein, daß "Wahlveranstaltungen in Diskussionen um den Nachrüstungsbeschluß umfunktioniert werden". Volkmar Deile entgegnete, mit Diskussionen auf Wahlveranstaltungen "kommt man nicht hin“. In Holland sei laut Umfragen 80% der Bevölkerung gegen eine Stationierung neuer Waffen; dennoch hätten dieselben Personen ein konservatives Kabinett gewählt. Darum müsse die Arbeitslosigkeit ebenfalls auf der Tagesordnung bleiben. "Wer Arbeit hat, wählt aus lauter Angst vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes konservativ." Darum müsse man versuchen, die Gewerkschaften "in die Friedensbewegung hineinzubringen und die Frage der Arbeitsplätze im Verhältnis zu den Rüstungskosten zu diskutieren". Er gab an, der DGB werde zur Teilnahme an den Ostermärschen 1983 aufrufen.
Deile ermahnte die Aktivisten, sich so zu verhalten, "daß der Lernprozeß des anderen nicht blockiert wird. Sonst bekommen wir eine elitäre Advant Garde und der Rest sinkt in die Resignation. Diesen Fehler der Studentenbewegung sollten wir nicht wiederholen.
Frau Krum bedauerte, daß sich die Nichtchristen an diesem Abend auf einer anderen Veranstaltung befanden. Sie äußerte die Hoffnung, man würde in Zukunft auch gemeinsam auftreten können. Propst Kern vertrat die Auffassung, wer grundsätzlich die Zusammenarbeit mit Nichtchristen ablehnt, "degradiert den christlichen Glauben zur Ideologie".
In seinem Schlußwort wies Professor Gollwitzer darauf hin, man werde sehr wenige Christen im Schnellverfahren in Pazifisten verwandeln können. Es gehe nun eben darum, besonders erfinderisch zu sein und ein Friedensprozeß "ins Rollen zu bringen". Dazu sollte das "Nein ohne jedes Ja" nur die erste Etappe bilden.
Bill Yoder,
Berlin, den 13. Dezember 1982
Erschien gekürzt an dem Tage im Evangelischen Pressedienst, Landesdienst Berlin, 923 Wörter
Anmerkungen von Januar 2022: Gerade wegen seiner Sicherheitspolitik war Helmut Schmidt (SPD) kurz zuvor am 1. Oktober 1982 durch ein Mißtrauensvotum gestürzt worden. Nach einer langen politischen Auseinandersetzung quer durch Europa wurden ein Jahr später, im Dezember 1983, die neuen Raketen aufgestellt.
Der Friedensaktivist und Mainzer Propst Helmut Kern lebte von 1928 bis 2021. Der sehr bekannte Berliner Theologe Helmut Gollwitzer lebte von 1908 bis 1993. Der Theologe Volkmar Deile (1943-2020) arbeitete für Aktion Sühnezeichen und später auch für Amnesty International. Noch leben Horsta Krum (geb. 1941) und Professor Wolfgang Huber (geb. 1942). Er war der evangelische Bischof von Berlin und Brandenburg von 1994 bis 2009.