Dieses Foto ist gemeinsam mit dem Interview in der „Kirche“ erschienen. Quelle unbekannt.
Christen haben eine Botschaft zu bezeugen und vorzuleben
Ein Interview mit Dr. José Miguez-Bonino, einem der Präsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen
Professor Miguez-Bonino ist als Methodist einer der wenigen Protestanten, die an der Spitze dieser Bewegung der Befreiungstheologie stehen. Er lebt in seiner Heimatstadt Buenos Aires (Argentinien) und lehrt dort an einer protestantischen Fakultät. An der bevorstehenden Tagung des Zentralausschusses des ÖRK in Dresden (17. bis 26. August 1981) wird er als einer der Präsidenten des Weltkirchenrates teilnehmen. Bill Yoder führte im Juni anläßlich eines Aufenthalts von Dr. Miguez-Bonino in Westberlin das folgende Gespräch.
Frage: In Europa erleben wir in den Kirchen Spannungen zwischen evangelikal-pietistischen und „modernistisch"-liberalen Kreisen. Diese Diskrepanz läßt sich beispielsweise an der Abhaltung zweier Weltkonferenzen 1980 in Melbourne und Pattaya ablesen. Wie erleben Sie in Lateinamerika dieses Gefälle?"
Antwort: Uns ist diese Kontroverse fremd. Sie existiert in unserer Region nur als etwas Importiertes. Unsere ganze protestantische Tradition ist ohnehin evangelikal. Einige in den Kirchen nehmen die klassische liberale Theologie zur Kenntnis und bedienen sich mancher ihrer Methoden der Bibelkritik. Dennoch sind wir Protestanten einem evangelikalen Evangeliumsverständnis sehr nahe geblieben. Ich sehe nicht ein, weshalb Pietisten das soziale Engagement suspekt sein sollte, denn es besteht eine lange Geschichte sozial gesellschaftlicher Tätigkeit unter ihnen.
Frage: In welcher Weise entwickelt sich die Befreiungstheologie? Kann sie immer noch als ein vorwiegend akademisches Unterfangen bezeichnet werden?
Antwort: Die Befreiungstheologie war niemals vorrangig eine akademische Angelegenheit. Sie ist den ärmeren Gesellschaftsschichten entsprungen und wurde von einfachen Priestern und Pastoren ins Leben gerufen, die bestrebt waren, die Not der Armen zu lindern. Erst später, in einer zweiten Etappe, wurde dieses Bemühen theologisch auf gearbeitet.
Gegenwärtig ist die Frage nach dem Sinn der Kirche besonders aktuell. Was sind die Merkmale der wahren Kirche? Welche Rolle spielt die verbindliche Gemeinschaft (community)? In welchem Maße soll sich eine Gemeinschaft mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt beschäftigen? Die christologische Frage wird ebenfalls bedeutungsvoller. Wer ist Christus?
Christus erlöst nicht nur einzelne Seelen. Christus ist Herr allen Lebens und beschäftigt sich mit allem, das die Menschheit berührt.
Weitere Fragen wachsen aus der existentiellen Situation heraus. Viele Christen erleben sehr stark Unterdrückung und Gefangenschaft, ihre Befreiung ist noch nicht in Sicht. Wie kann man trotz schärfster Verfolgungen weitermachen und die Hoffnung nicht verlieren? Wir erkennen besser, daß der Wandlungsprozeß langwierig sein und uns viel Leid und Opfer abverlangen wird. Im Kampf gegen einen autoritären Staat, der die Bedeutung des einzelnen ignoriert, muß die Kirche diesen Staat mit einer hohen Wertschätzung des einzelnen konfrontieren.
Wir nehmen immer mehr davon Abstand, die Kirche als eine Hierarchie und Institution zu betrachten. Die Kirche soll eine verbindliche Gemeinschaft werden, die sich ihrem Glauben und ihrer Umwelt verpflichtet weiß.
Frage: Im August findet erstmals in der DDR eine Zentralausschußtagung des Weltkirchenrates statt. Was steht auf dem Programm dieser Dresdner Begegnung?
Antwort: Wir werden uns vor allem den Vorbereitungen auf die nächste Vollversammlung in Vancouver/Kanada 1983 widmen. Die Losung für Vancouver bezieht sich auf Jesus als das Leben der Welt. In Dresden wird man in diesem Zusammenhang ausführlich über soziale Bedürfnisse und das Bemühen unterdrückter Völker nach erfülltem Leben reden. Unser Evangelisations- und Missionsverständnis wird ebenfalls debattiert. Jesus Christus als das Leben der Welt muß proklamiert und jedem einzelnen vorgestellt werden. Kurz gesagt: In Jesus ist das in jeglicher Hinsicht erfüllte Leben zu finden. Diese Botschaft haben wir der Welt zu bezeugen und vorzuleben.
Frage: Was erwarten Sie, während ihres 14-tägigen DDR-Aufenthaltes zu erfahren?
Antwort: Ich bin bisher nur ein einziges Mal kurz in der DDR gewesen und möchte gern erfahren, welche Wege die Kirche gefunden hat, ihrem Auftrag gerecht zu werden. Wie erfüllt sie ihren prophetisch-kritischen und ihren missionarischen Auftrag? Inwiefern ist es den Christen hier gelungen, sich auf eine ihnen völlig neue Umwelt umzustellen?
Frage: Was würden Sie den Christen in der DDR empfehlen? Ist beispielsweise der Christ überhaupt berechtigt, sich als so etwas wie das moralische Gewissen seines Staates zu verstehen?"
Antwort: Da ich niemals in einem sozialistischen Land gelebt habe, spreche ich ohne Autorität. Man sollte in Erinnerung behalten, daß die Existenz der Kirche in einem Staat, der ihr „von Natur aus" nicht unbedingt wohlgesinnt gegenübersteht, nichts Neues ist. Die Kirche ist unter solchen Bedingungen entstanden, und darum ist die Haltung der Urgemeinde noch heute lehrreich. Dort, wo man lebt, nimmt man am Leben der Gesellschaft teil und fördert ihr Wohlergehen. Man macht aktiv mit und betet für die verantwortlichen Staatsmänner. Man soll niemals einem Staat negativ gesinnt sein, bloß weil er sich z.B. als atheistisch versteht. Nur dann, wenn wir durch unsere Arbeit und unser Gebet aktiv an unserer Gesellschaft teilzunehmen, sind wir auch berechtigt, kritische Funktionen auszuüben. Wer nur eine kritische Funktion praktiziert, wird verständlicherweise schnell zum „Staatsfeind" werden. Im Westen bestehen nun sogenannte christliche Staaten, die im Namen des Christentums allerlei Repressionen und Unterdrückung erzeugen. In solchem Fall darf man nicht eine Haltung der kritischen Partizipation einnehmen, weil sonst das eigentliche Wesen der Kirche auf dem Spiel steht.
Ich bin davon überzeugt, daß das kapitalistische System außerstande ist, manche Gesellschaftsprobleme zu lösen. Der Kapitalismus fördert eine Gesellschaft nur in einer unbefriedigenden Weise und muß darum von sozialistischen Ökonomien abgelöst werden.
Frage: Wie wirken sich die in letzter Zeit vermehrten Ost-West-Spannungen auf den Befreiungskampf aus? Sind wegen der neuen US-Politik gewisse Wandlungen im Gange?
Antwort: Zweifellos. In den letzten Jahren war die Tendenz vorhanden, „Mischsysteme" zu entwickeln. Nikaragua z.B. wollte gewisse ökonomische Momente vom Sozialismus, andere vom Kapitalismus übernehmen. Staaten wie Venezuela und Mexiko bewegten sich in Richtung Sozialdemokratie. Die harte Linie der Reagan-Regierung, die einem Staat ein entweder hundertprozentiges Ja oder Nein abverlangt, hat die Fronten verhärtet. Diese Politik bestärkt faschistische Rechtsgruppierungen und steigert den Klassenantagonismus. Die Linken sehen nun immer weniger Wege außer dem des bewaffneten Widerstands.
Viele im lateinamerikanischen Befreiungskampf plädieren für die Paktfreiheit ihrer Länder. In der jetzigen angespannten Lage werden sie aber gezwungen, eindeutig Farbe zu bekennen. Was diesen Staaten von einem Machtblock an Hilfsgütern vorenthalten wird, müssen sie vom anderen bekommen. Im Hinblick auf Waffenlieferungen hat Kuba bisher nur eine recht bescheidene Hilfe geleistet. Es wird jedoch zur Rechtfertigung der US-Intervention ein anderes Bild an die Wand gemalt.
Frage: Gewisse westliche Kreise behaupten, die Fortsetzung der salvadorianischen Kampfhandlungen mache den Völkermord unausweichlich, denn die Opposition habe keinerlei Chancen, einen militärischen Sieg zu erringen. Die rechten Militärs bleiben unverändert stark und genießen üppige nordamerikanische und guatemaltekische Unterstützung. Machen sich europäische Sozialisten durch ihre Parteinahme für einen aussichtslosen Kampf des Völkermordes mitschuldig?
Antwort: Die Situation in El Salvador ist äußerst tragisch und schwierig. Für mich steht es außer Frage, daß ein einseitiger Verzicht der Opposition auf den bewaffneten Widerstand die Ausmerzung aller progressiven Kräfte zur Folge hätte. Das wäre ebenfalls Völkermord. Ich sehe im Augenblick keine Lösung. Die USA müssen unter Druck gesetzt werden, damit sie ihre militärischen Lieferungen einstellen.
Frage: Sie glauben also, die Vereinigten Staaten werden einen Sieg der salvadorianischen Opposition hinnehmen.
Antwort: Ich hoffe es. Aber solange die USA die Junta unterstützen, verzögert sich eine solche Lösung um viele Jahre.
William Yoder,
Berlin-West
Erschienen in „Die Kirche“, Berlin/DDR, am 16. August 1981, 1.134 Wörter
Anmerkungen von April 2022: José Miguez-Bonino, der von 1924 bis 2012 lebte, war Professor an einem lutherischen Seminar in Buenos Aires und von 1975 bis 1983 ein Präsident des Weltkirchenrats. Er verfaßte etwa 16 Bücher.
Als der Verfasser dieses Interviews Anfang August 1981 das Manuskript nach Berlin-Ost einführen wollte, wurde er zurückgewiesen. Später an dem Tage durfte er ohne Aufsatz und ohne weitere Taschenkontrolle wieder einreisen. Das Manuskript mußte er aber mit der Post von Berlin-West nach Berlin-Ost übermitteln. Das Interview konnte dennoch fristgerecht erscheinen.