Kritische Thesen von Bill Yoder
Der Aufstieg der westlichen »Ostmissionen« ist kaum noch aufzuhalten. Seit mindestens fünf Jahren üben sie, insbesondere auf Grund des Heranwachsens der „Christlichen Ostmission e.V.“, einen beachtlichen Einfluß auf die Bildung der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik aus. Ich bin mir bewußt, daß große Rivalitäten zwischen den verschiedenen Ostmissionen bestehen und weiß, daß nicht jede Mission alles dessen schuldig ist, was ich hier anführe (z.B. »Licht im Osten«). Ich möchte aber vier Schwächen aufzählen, an denen die große Mehrzahl solcher Missionen leidet:"
1. Oberflächlichkeit
Ostmissionen begnügen sich mit einem vereinfachten Held-Bösewicht-Modell, um das kirchliche Leben in einer sozialistischen Umwelt zu beschreiben. Die Bösewichte sind selbstverständlich die kommunistischen Unterdrücker, die Helden immer die verfolgten, aber siegreichen Christen.
Aber die osteuropäische Wirklichkeit, auch in Bezug auf das kirchliche Leben, dreht sich um viel mehr als bloß eine »Hetzjagd« der Kommunisten auf die Christen."
Fassen wir zum Beispiel den weltberühmten Fall von Georgi Wins in der UdSSR ins Auge. Viele Evangelikale haben seinetwegen 1976 in Berlin und Bonn demonstriert. Für sie stellt er einen eindeutigen Fall der Unterdrückung eines Menschen dar, der „um seines Glaubens willen“ verfolgt wird.
Dennoch hat mir ein Spezialist für sowjetische Kirchenfragen kürzlich bestätigt, Wins könne sofort auf freien Fuß gesetzt werden, wenn er sich bereit erklärte, seinen Beruf als Ingenieur auszuüben. Aber Wins wünscht sich eine bezahlte Stellung als Leiter der nicht-registrierten Baptisten (initiativ), Eine Zustimmung seitens des Staates würde gleichzeitig eine Anerkennung der nicht-registrierten Baptisten gegenüber dem offiziellen „Altunionsrat der Evangeliumschristen-Baptisten“ bewirken. Gerade dies möchte Georgi Wins durch seine Inhaftierung erzwingen, und hier mochte er der Staat nicht nachgeben.
Ich sehe keinen Grund, weshalb der Staat diese Splittergruppe der Baptisten nicht anerkennen sollte, auch wenn sie unter den russischen Baptisten umstritten ist. Dennoch möchte ich gerne wissen, weshalb sich die Ostmissionen nie die Mühe gemacht haben, die wahre Lage der Öffentlichkeit mitzuteilen. Die Vorfälle sind eben nie so einfach, wie die Ostmissionen es uns weismachen wollen. Geschichtliche, politische und kirchliche Hintergründe dürfen nicht außer Acht gelassen werden.
Oberflächlichkeit führt zu vereinfachten Lösungen; vereinfachte Lösungen führen häufig zu nicht verantwortbaren Spenden. Es gibt Berichte über „Westler“, die osteuropäische Kirchen besuchten und wahllos Geld verteilten. Ein amerikanischer Tourist teilte einem Freund in Jugoslawien mit: „Ich führe 5.000 Dollar mit mir, die nach einem neuen Besitzer suchen.“ Solche Gelder sammeln sich meistens in den Händen gewisser osteuropäischer Gemeindeführer.
Das Annehmen von ausländischen Geldern führt dazu, daß jene Gemeindeleiter häufig den westlichen Missionen mehr verpflichtet sind, als ihren eigenen einheimischen Gemeinden. Dieser Tatbestand fördert die Zersplitterung der Gemeinden. Lieblingsprojekte bestimmter Gemeindeleiter werden oft sogar gegen den Wunsch der örtlichen Gemeinde ins Leben gerufen. Mit westlichen Freunden kann ein östlicher Gemeindeleiter auch ohne die Mitwirkung seiner Gemeinde wohlhabend und „erfolgreich“ werden. Wenn er sich ein neues Projekt wünscht, dann spricht er zuerst die freundlichen Besucher aus dem Westen an.
Aber Almosen zerstören die Würde; sie widersetzen sich dem Bewußtseinswachstum der östlichen »Freikirchen«; sie fördern Korruption und Abhängigkeit.
2. Übertriebene Romantik
Die Ostmissionen tragen dazu bei, daß westliche Evangelikale ihre östlichen Glaubensgenossen besonders romantisch darstellen; sie sehen die Christen „hinter dem Eisernen Vorhang“ aus ihren versteckten Andachtskellern kletternd, um die Straßenecken schleichend, den Sicherheitspolizisten entkommend und in die Arme der wartenden Bibelboten fallend. Die grenzenlose Naivität dieser Vorstellung ist erschütternd. Fünfundneunzig Prozent der osteuropäischen Christen können nichts mit dieser Vorstellung anfangen.
Wir Evangelikale glauben noch an die alte Fabel, daß die Verfolgung die osteuropäischen Christen geläutert habe. Wer eine osteuropäische Gemeinde kennt, weiß, daß jene Gemeinden ebenso mit Neid, Korruption, Lauheit oder Ehebruch belastet sind wie die unseren. Ist es vielleicht nicht unser Paternalismus, der diesen Christen ein Denkmal errichten möchte? Ein Bekannter meinte dazu: „Wir fügen unseren östlichen Freunden großes Unrecht zu, wenn wir ihnen das Recht nehmen, Fehler zu begehen.“
Ich habe noch nie ein Wort von den deutschen Evangelikalen über die tatsächlichen Schwächen der russischen Baptisten (Gesetzlichkeit, Introvertiertheit, Weltverschlossenheit) gelesen. Bis auf wenige Ausnahmen lese ich immer nur die gleichen, undifferenzierten Verherrlichungen.
Mir ist schon mehrmals von osteuropäischen Christen gesagt worden: "Unsere Hauptprobleme haben nichts mit dem Staat zu tun. Unsere Hauptprobleme sind innerkirchliche Probleme, die praktisch nichts mit dem Verhältnis Kirche-Staat zu tun haben.“ Gerade über diese innerkirchlichen Probleme sind wir noch nicht ins Gespräch gekommen. Es ist schwer, einem Freund beizustehen, wenn man seine eigentlichen Probleme nicht kennt.
Noch ein Wort zu den »Bösewichten«: Ich möchte mit Nachdruck versichern, daß nicht alle Marxisten danach trachten, alten Frauen die Bibel abzunehmen und sie zu verprügeln. In vielen Ländern der Welt (Jugoslawien, Polen, Lateinamerika) haben Marxisten eine Toleranz gegenüber dem Glauben gezeigt, von der der christliche Kreuzzügler nur lernen kann. Wir dürfen nicht vergessen, daß manche der leidenschaftlichen Gegner des Stalinismus selbst auch Marxisten sind.
Es ist erforderlich, daß wir über die romantische Bibelschmuggel-Rauber und-Gendarm-Ebene hinauskommen, wenn wir tatsächlich Solidarität mit diesen Christen üben möchten. Erst dann werden die Bibelgläubigen Westeuropas ein Gespräch mit Marxisten führen können. Erst dann wird der Marxist vom Glauben her angesprochen werden können.
3. Mangelnde ldentlfizierung
Diese Schwäche wird darin offenbar, daß die Bibelboten noch heute ihre Reisen als „Vorstöße ins feindliche Lager“ betrachten. Unser Held stößt blitzartig hinein und rückt schnell wieder ab. Dann kehrt er mit großartigen Erzählungen über seinen persönlichen Kleinsieg über den hinterhältigen kommunistischen Gegner nach Hause zurück. Auf Grund der gelockerten Reisebestimmungen werden derartige „Siege“ über den Kommunismus In immer größerem Maße der Öffentlichkeit bekannt.
Leider haben wir vergessen, daß der eigentliche Feind mitten in unserem eigenen Herzen steckt! Wir haben doch in erster Linie gegen uns selbst anzukämpfen. Nur wir Christen sind imstande, die Glaubwürdigkeit der Kirche Christi zu zerstören! Das kann kein Marxist. Das Schicksal der Kirche Ist doch nicht von den Kommunisten abhängig.
Eine Stimme aus der DDR: „Atheisten können nur schlechte oder gute atheistische Propaganda machen. Aber Christen haben die fatale Möglichkeit, Gott In Christus vor der Welt unglaubwürdig zu machen.“ Der Feind ist Immer dabei, egal In welcher geographischen Lage wir uns befinden.
Ostmissionen beschränken Ihre Hilfeleistung zumeist auf Literatur, Devisen, Geschenke und Rundfunksendungen. Vielleicht halten sie bessere Hilfeleistungen nicht für möglich. Wer hinein und hlnaus rast, tut sich schwer, die Spannungen und gestörten Beziehungen zu empfinden, die unter der Oberfläche jeder östlichen wie auch westlichen Gemeinde liegen.
Ich meine, daß eine wirkliche ldentlfizierung, ein Sichgleichstellen, sogar In der Form einer Übersiedlung nach Osteuropa, eine Alternative wäre. Die langfristige, intensive Beschäftigung mit einer Gemeinde sollte uns am meisten interessieren. Ware das Übersiedeln wirklich eine Überforderung? Denken wir an die Urgemeinde. Denken wir an Chè Guevara und andere Revolutionäre, die auf Ihre Frauen und Kinder verzichteten, in die Urwälder zogen und dort für ihre hohen Ideale starben. Mehr christliche Opferbereitschaft Ist gefragt. Christliche Missionen brauchen dringend die Bereitschaft, auf die Jumbojets zu verzichten und tagtäglich unter dem osteuropäischen Volk zu leben.
4. Hurrarufe für den Westen
Die Propaganda der Ostmissionen zerstört die Ansätze des Vertrauens und der Hoffnung zwischen Ost und West. Das Klima der Angst, das diese Propaganda fördert, wird von den Rüstungskonzernen aller Welt dankbar entgegengenommen.
Es Ist nicht schlimm, wenn man einen anderen Staat auf dessen Verletzungen der Menschenrechte hinweist. Es wird erst dann fraglich, wenn immer nur der Nachbar Anlaß zur Kritik gibt, wenn man seinem eigenen Staat die Menschenrechtsfrage vorenthält. Dies tun die Ostmissionen. Das einseitige Anprangern ist ein Lieblingskind der „kalten Krieger“ in Ost und West.
Die Ostmissionen versichern immer wieder, daß sie ganz unpolitische Organisationen sind. Es ist aber unmöglich, gegen die realen und vermeintlichen Sünden der sozialistischen Staaten zu wettern, ohne den großen Hurraruf für den Westen in der Brust des loyalen Evangelikalen auszulösen. Die größten Ostmissionen haben Zweige ihrer Werke in Südafrika und Rhodesien, wo sie großen Anklang unter den Weißen finden. Vielleicht sind die Ostmissionen unpolitisch nur in dem Sinne, daß sie sich niemals mit den Auswirkungen Ihrer konservativen Politik befaßt haben.
DDR-Pfarrer Klaus-Relner Latk siedelte 1976 in die BRD über. Heute ist er Mitarbeiter einer wahrlich rechtsextremistischen Ostmission - der „Hilfsaktion Märtyrerkirche“. Ich kann mir nichts vorstellen, was Nichtchristen in der DDR schneller vom Glauben abstößt.
Der heutige Marxismus sollte unsere alten, im kalten Krieg erworbenen Ansichten in Frage stellen. Die ldentlfizierung mit den dortigen Christen sollte uns in neue, weniger westliche Menschen verwandeln. Wenn der Bibelschmuggler „drüben im feindlichen Lager“ die kritischen Fragen über sein politisch-theologisches Weltbild nicht hört, dann ist mir dies ein Beweis mangelnder ldentifizlerung.
Ich meine aus meinen DDR-Erfahrungen sagen zu können, daß das Zeugnis Martin Luther Kings, eines theologisch Liberalen, mehr Positives für die Christen der DDR gegenüber ihrer Umwelt bewirkt hat, als das Bemühen hunderter Bibelschmuggler. Der verstorbene M.L. King Ist einer der wenigen westlichen Christen, die die Hochachtung der Marxisten haben. Hier war ein Christ, dessen moralische Empörung nicht einer ausgeprägten pro-westlichen Politik entsprang. Hier war ein Christ, der sich mit den großen sozialen Problemen im eigenen Lager beschäftigte. Moralische Empörung und christlicher Glaube vermengt mit NATO und IBM können nur Hohn bei unseren kommunistischen und nichtkommunistischen Freunden im sozialistischen Lager auslosen. Der Glaube Kings bezog sich auch auf geschäftliche Fragen und wurde dadurch ein Glaube, der für jeden Materialisten verständlich ist.
Eine in diesem Sinne erhöhte Glaubensqualität seitens der Westchristen gegenüber den kommunistischen Staaten ist gefragt. Spenden und Berge von westlicher, christlicher Literatur können eine mangelnde Glaubensqualität nicht wettmachen. Eine zunehmende Lautstarke unseres Zeugnisses kann dessen mangelnde Qualität nicht übertönen.
Besonders die kleineren protestantischen Kirchen benötigen die richtige Übersetzung für das Evangelium in einer sozialistischen Umwelt. Die Christen Osteuropas müssen ihre Aufgabe und ihren Weg in der Ihnen gegebenen Gesellschaftsform finden; sie müssen ein eigenes Selbstbewußtsein entwickeln.
Leider neigt die westliche Haltung dazu, das Leiden der osteuropäischen Kirchen angesichts des staatlichen Drucks hervorzuheben. Stattdessen sollten die besonderen Chancen dieser Kirchen angesichts der neuen Gegebenheiten unterstrichen werden. Außenstehende reden häufig von einer „Versklavung“ der Kirchen in der DDR. Viele am Leben dieser Kirchen Mitbeteiligte sprechen jedoch von einer gewissen Befreiung; denn die Last des Fungierens als eine staatliche Machtkirche ist von Ihnen genommen und Ihnen eine neue Chance geboten worden.
Es ist an der Zelt, daß auch die Ostmissionen über die besonderen Möglichkeiten des Christseins in einer sozialistischen Gesellschaft nachzudenken beginnen.
Bill Yoder
Berlin-West, etwa am 15. Februar 1978
Erschienen in den „Mennonitischen Blättern“ aus Hamburg, Ausgabe April 1978, 1.861 Wörter
Anmerkungen vom Mai 2022: Georgi Wins (1928-1998) wurde erst später (1979) aus der UdSSR ausgewiesen. Interessant ist die Tatsache, daß Georgis Vater, der in Borden/Saskatchewan geborene Peter Wins (ursprünglich Wiens), erst zwei Jahre vor Georgis Geburt als Missionar in die junge UdSSR eingewandert war. Jakob Wiens, der Großvater von Georgi und ein führender Pastor der Mennoniten-Brüdergemeinden, war in die umgekehrte Richtung ausgewandert. Schon 1930 wurde Peter erstmals verhaftet; er verstarb 1943 im Gefängnis.
Inzwischen ist dieser Aufsatz 44 Jahre alt. Ich würde mich heute hoffentlich weniger plakativ ausdrücken. Zu vielen der hier gemachten Aussagen würde ich noch heute stehen. Es ist aber auch deutlich, daß dieser Aufsatz die Lage der Christen in der damaligen DDR zu stark auf die Lage im Warschauer Pakt insgesamt überträgt.
Das denkwürdige Zitat aus dem Jahre 1967 im vierten Absatz unter Punkt 2 – wir seien uns selbst die größten Gegner - stammt von Ilsegret Fink, der Ehefrau des Humboldter Theologieprofessors Heinrich Fink (1935-2020). Frau Fink ist m.W. weiterhin in Berlin-Karlshorst wohnhaft.