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Reaktionen auf die Jarowaja-Gesetze

Die Weiterfahrt in entgegengesetzte Richtungen

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Zur gegenwärtige Lage der Protestanten in Rußland

 

S m o l e n s k – Die Beunruhigung seit Verabschiedung der „Jarowaja-Gesetze“ bzw. des „Jarowaja-Pakets“ durch Wladimir Putin am 7. Juli ist beträchtlich: Zu einem Seminar des US-liierten „ in der russischen Hauptstadt am 18. Juli sind 3.500 Interessierte – zumeist Protestanten – erschienen. „Die Gläubigen haben große Angst vor Strafzahlungen“, berichtete Witali Wlasenko, Abteilungsleiter für Außenbeziehungen bei der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“, am 20. September. „Unsere Gemeinden sind oft sehr arm, und eine Strafe von 1.000 Rubeln (14 Euro) würde sie schon in helle Aufregung versetzen. Viele unserer Gemeinden versammeln sich noch in unregistrierten Bethäusern, die auf die Namen von Privatpersonen eingetragen sind. Nun sieht es so aus, als ob Gemeindefremde und Ausländer kaum Zugang zu solchen Gebäuden haben werden. Vieles bei der Auslegung der neuen Gesetze ist noch unklar, und gerade in der Provinz arbeiten unsere Polizeikräfte nicht sonderlich professionell. Es hat bereits einen Fall gegeben, bei dem Menschen davon abgehalten worden sind, im eigenen Gemeindehaus zu beten.“ In Samara/Wolga waren die Protestanten sehr verunsichert darüber, ob sie überhaupt noch eine Feier zum 140-jährigen Bestehen der russischen Synodalbibel durchführen dürfen. Dabei handelt es sich um ein staatlich gefördertes Projekt!

 

Der englische Informationsdienst „Forum 18“ berichtete, im ersten vollen Monat ihrer Geltung – August 2016 – seien sechs Personen anhand der Jarowaja-Gesetze verurteilt worden. Betroffen sind nicht nur Einzelgänger und Hari-Krischna, etablierte Baptisten-, Adventisten- und Pfingstgemeinden werden ebenfalls überprüft.

 

Der Moskauer Pfingstler Sergei Filinow, Pastor der „Mission Lebendigen Glaubens“ und Vorsteher des Dachverbandes „Rat der christlich-evangelischen Kirchen“, weist darauf hin, daß ein Verbot missionarischer Tätigkeit als Verstoß gegen das verfassungsmäßig verbriefte Recht auf Glaubensfreiheit ausgelegt werden kann. Nach seinem gegenwärtigen Verständnis läßt das Gesetz das Versammeln in Hausgemeinschaften zu wenn der Hauskreis einer eingetragenen Kirchengemeinschaft angehört und alle Teilnehmer aus dieser Gemeinschaft stammen. Doch in welcher Eigenschaft spricht ein Mensch, wenn er seinen Glauben kundtut, fragt der Pastor. „Das darf er im Namen seiner Kirche tun, doch nicht im eigenen Namen.“ Das hält er für Haarspalterei.

 

Es könnte durchaus sein, daß bald Auftritte von Ausländern bei religiösen Veranstaltungen mit nur einem Touristen- oder humanitären Visum der Vergangenheit angehören werden. Das würde höchstwahrscheinlich auch für ukrainische Staatsbürger gelten, die an sich visafrei nach Rußland einreisen dürfen. Man hört, ein geschriebener Vertrag zwischen einladender Organisation und Gastredner wird künftig erforderlich sein. 

 

Hier handelt es sich um den Versuch des Staates, die seit 1990 weitverzweigte und unübersichtliche Welt der religiösen Gemeinschaften in Rußland zu ordnen. Alle sollen Farbe bekennen, alle sollen eingeordnet werden. Man könnte behaupten, es handele sich um den Versuch, das in die Praxis umzusetzen, was die Gesetzgebung von 1997 bereits gefordert hatte. Hiermit geraten dezentral geführte Gemeinschaften wie die koreanischen Presbyterianer unter Druck. Es gibt ja keinen einzigen Presbyterianer in Rußland, der über einen relativ vollständigen Überblick verfügt. Das ist auch kaum verwunderlich, da es in Südkorea rund 112 selbständige presbyterianische Denominationen gibt. Die 1961 gegründete „Sowjet Tserkwei“, der nichtregistrierte “Internationale Rat der Kirchen der Evangeliumschristen-Baptisten”, will kein eingetragener Verein sein und hat aus Prinzip noch nie über offiziell-registrierte Gemeindehäuser verfügt. Er wird es einmal wieder darauf ankommen lassen.

 

Das Positive
Am 19. September hielt sich Witali Wlasenko in Samara mit der Absicht auf, Wogen zu glätten. Er betonte dort, daß der Abhaltung einer Jubiläumsfeier zur Bibelübersetzung nichts im Wege stünde. Er besuchte ferner den orthodoxen Metropoliten Sergii (Poletkin), der versprach, einen Vertreter zur Jubiläumsfeier zu entsenden. Nach Wlasenkos Angaben sagte der Metropolit ferner dem neuen Projekt, “Ich lese die Bibel”, seine volle Unterstützung zu. Auch das Projekt zur Bibellesung verfügt über eine starke finanzielle Unterstützung durch den Staat; beide Projekte sind bisher über die Abteilung für Außenbeziehungen beim Baptistenbund (Wlasenko) abgewickelt worden. Der Staat wird ferner ein Projekt im Reformationsjahr 2017, das von Erzbischof Dietrich Brauer und seiner “Evangelisch-Lutherischen Kirche” durchgeführt wird, stark unterstützen. (Noch sind die finanziellen Zahlen nicht öffentlich.) Einmal wieder sieht es so aus, als würde sich der russische Staat gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen bewegen. Restriktive Maßnahmen stehen einer finanziellen Förderung protestantischer und überkonfessioneller Projekte gegenüber.

 

Wlasenko betont dementsprechend, daß die neue Gesetzgebung nicht prinzipiell gegen die protestantischen Kirchen gerichtet sei: “Unser Staat ist selbstverständlich nicht gegen den christlichen Glauben.” Dieser Kirchendiplomat will konstruktiv Staat und Orthodoxie gegenüber auftreten. “Manchmal äußern Organisationen zu viel Kritik”, versichert er. “Wir wollen einen konstruktiven Dialog – Staat und Orthodoxie sind unsere Verbündeten. Wir wollen betonen, daß wir Russen sind und daß wir uns eins mit unserem Lande fühlen. Die Bibel lehrt uns, daß wir unseren Staatsvertretern gehorchen und sie respektieren sollten. Schwierig wird das nur, wenn sie im Widerspruch zur Bibel stehen.” Organisationen wie dem “Slavic Legal Centre” hält er vor, die tieferliegende Dynamik, die hinter den Jarowaja-Gesetzen steckt, zu übergehen.

 

Mein Kommentar: Klar ist, daß Staaten wie Rußland, China, Indien und die muslimischen Staaten Zentralasiens einen kirchlichen “Wildwuchs” wie etwa in Lateinamerika und Afrika verhindern wollen. Dort dürfen ja auch die kleinsten, westlichen Glaubensgemeinschaften und Sekten neue Filialen eröffnen. Vor wenigen Jahren begegnete ich in der Zentralen Baptistengemeinde Moskaus baptistischen Mitarbeitern der indischen Botschaft. Ich sprach sie auf die Tatsache an, daß Ausländer, die auf Touristenvisa nach Indien einreisen und dort predigen oder taufen, mit Einreisesperren von fünf Jahren rechnen können. Diese indischen Diplomaten fanden die Praxis in Ordnung. Man wehrt sich gegen die Überfremdung – in Osteuropa und vielen Teilen Asiens denkt man defensiv.

 

Die Zukunft

Pastor Wlasenko räumt ein, die Jarowaja-Gesetze hätten als “Rider”, als kleingedrucktes Anhängsel einer umfangreicheren Gesetzgebung, die Duma passiert. Nicht einmal die Duma-Kommission für religiöse Fragen wurde vorher konsultiert; trotzdem hat Präsident Putin die Sache paraphiert.

 

Seit den Wahlen vom 18. September gibt es nun eine neue Zusammensetzung der Staatsduma. Kirchenleiter wie Sergei Filinow hoffen, daß etwa Jaroslaw Nilow, Vorsitzender der Duma-Kommission für religiöse Fragen, eine Initiative zur Verbesserung und Präzisierung der Gesetzgebung startet. Der 1982 geborene Nilow ist ein bei Protestanten hochangesehener Vertreter der rechtsgerichteten Partei Wladimir Schirinowskis, die “Liberal-Demokratische Partei Rußlands” (LDPR). Putin selbst hat bereits mögliche Änderungen in Aussicht gestellt.

 

Dr. phil. William Yoder
Smolensk, den 27. September 2016

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